Anmerkungen zum Jahreskurs |
Regel und Ausnahme |
Die Stadt ist ungeachtet ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit das folgerichtige Resultat nachvollziehbarer historischer Prozesse. Die Bedingungen der Stadtentwicklung - die materiellen wie die immateriellen - sind weitgehend bekannt und stellen wohlgeordnete Felder von Einflussgrössen dar, welche zwar nicht genau berechenbar, aber doch in ihrer evolutiven Wirkung beschreibbar sind: angefangen bei den Bedürfnissen des einzelnen Menschen nach einer angemessenen Behausung, über die kulturellen Erwartungen einer Gesellschaft bis hin zu den Ökonomischen Faktoren einer inzwischen globalen Wirtschaft. Vom Ursprung aller städtischen Kulturen, nämlich dem wirtschaftlichen Nutzen eines zentralen Ortes für den Handel, bis zu den feinsten Ausdifferenzierungen der funktionalen und symbolischen Anforderungen die an sie gestellt werden, sind die äusseren Einflüsse auf die Entstehungsgeschichte der Stadt ein exaktes Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaften.
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Deutlicher noch sind die inneren Wirkungsmechanismen, die "Mechanik" des Stadtwachstums, in ihrer konsequenten und rationalen Struktur erkennbar: die technischen Infrastrukturen und Erschliessungen als materielle Voraussetzung für Wachstum, die Eigentumsverhältnisse, wie sie sich in dem starren und nur langsam veränderbaren Netz der Parzellengrenzen ausdrücken, die wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten von Angebot und Nachfrage, die über den Preis und damit über die Handelbarkeit des Bodens entscheiden, sowie die eigentlichen Planungsinstrumente als Ausdruck politischer Willensbildung.
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Das gesamthafte Resultat dieser Kräfte und der sie regelnden Steuerungsprozesse, die Stadt in ihrer gegenwärtigen Gestalt, trägt die Merkmale eines geordneten Systems. In ihr kristallisieren sich die gesellschaftlichen, wirtschaftichen und politischen Bedingungen zu einer prägnanten und klar strukturierten Form. |
Soweit die Theorie der Stadtentwicklung, die durchaus in der Lage ist, die Entstehungsgeschichte unserer Städte in den groben Linien zu skizzieren und die die forma urbis im grossen und ganzen erklärt, die aber nichts aussagen kann über den Charakter, über die Atmosphäre, über die unverwechselbare Identität einer einzelnen Stadt. In der Praxis wird die regelhafte Entwicklung immer wieder durch Ausnahmen - zufällige und oft genug ortsspezifische Bedingungen - gestört. Es ist gerade das Unvorhersehbare, in der historischen Perspektive Uneindeutige und deshalb Unerklärliche, welches - immer vor dem Hintergrund eines rationalen Plans - einer Stadt ihr Gesicht gibt. Die Ensanche von Barcelona oder die Insel Manhattan in New York, um nur zwei besonders deutliche und in stadtplanerischer Hinsicht extreme Beispiele zu nehmen, zeigen anschaulich, wie aus einfachsten Regeln durch Variationen, Abweichungen und Brüchen höchst differenzierte Stadtteile werden. An den Stellen, wo die Regel an Grenzen stösst, wo sie aus irgendeinem Grund gebrochen wird, sei es wegen der Topographie oder wegen einer historischen Diskontinuität, entsteht eine Art Verdichtung des Ausdrucks. Da bekanntlich die Ausnahme die Regel bestätigt, sind es genau diese Orte, welche die präziseste Aussage zur Gesetzmässigkeit einer Stadt machen - und sie zugleich von allen anderen unterscheiden.
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Das architektonische Entwerfen in der Stadt muss beides verinnerlichen: die Regeln und die Ausnahmen. Damit eine entwerferische Intervention einen Beitrag zur Stadtentwicklung leistet und nicht eine solitäre Erscheinung bleibt, muss ihr eine Analyse und Interpretation der zugrundeliegenden Strukturen vorausausgehen, sie muss aber ebensosehr von einem aufmerksamen Auge für die Eigenheiten der Stadt und des spezifischen Ortes geleitet werden.
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Analyse und Synthese |
Das Thema des Jahreskurses ist das Entwerfen in komplexen städtischen Kontexten. Die Zielsetzung ist zweifach: aus didaktischer Sicht werden entwerferische Methoden unter "realen" Bedingungen theoretisch und praktisch eingeübt, inhaltlich werden die Beziehungen zwischen dem architektonischen Projekt und der Stadt untersucht. Das bedeutet, dass gleichzeitig zwei Kompetenzen erworben und ausgebildet werden müssen - im Umgang mit den Instrumenten des Entwurfs und im Verstehen der strukturellen und räumlichen Logik der Stadt. Das erscheint zunächst widersinnig - folgerichtiger wäre, zuerst die Handhabung der Instrumente zu erlernen, bevor man sich an den Untersuchungsgegenstand heranmacht.
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Dass dieses Vorgehen trotzdem sinnvoll ist, hat seinen Grund in der ambivalenten Natur des Entwerfens selber. Einerseits gibt es zwar so etwas wie eine Methodik des Entwerfens mit allgemeinen Regeln und Techniken, und es kann durchaus von einer wissenschaftlichen Vorgehensweise gesprochen werden, andererseits ist Architektur auch immer wieder ein künstlerisches Experiment, welches das Vergessen und Neuaneignen der Regeln, eine Rückkehr zum "Nullpunkt" des architektonischen Wissens, verlangt und voraussetzt. So gesehen muss man das Entwerfen ein Leben lang immer wieder von neuem erlernen, nie verfügen wir über genügend Information und Wissen, um die gestellte Aufgabe nach streng wissenschaftlichen Kriterien "seriös" bewältigen zu können.
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Hinzu kommt, dass Entwerfen keineswegs ein stetiger, linearer Prozess, ein kontinuierliches Vorwärtsschreiten von einem Punkt A nach einem Punkt B ist, sondern ganz im Gegenteil ein iteratives, in höchstem Masse heuristisches Verfahren, das auf einem nicht immer vorhersehbaren Pfad - über Umwege, manchmal vorwärts, manchmal auch wieder Rückwärts - von einer temptativen Lösung zur nächsten führt, bis wir einen dieser Zustände durch einen bewussten Entscheid zum mehr oder weniger endgültigen Resultat erklären. Die erforderliche Konvergenz dieses Verfahrens liegt in dem Bestreben, wenige, aber dafür wesentliche Ideen des Entwurfes zur Kristallisation zu bringen.
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Und noch eine Ambivalenz: betrachtet man nur das Endprodukt, erscheint das Entwerfen als ein Verfahren der Synthese; es werden Dinge zusammengefügt zu etwas Neuem, es wird etwas geschaffen. Betrachtet man hingegen den Prozess, stellt man eine eigentümliche Dualität fest, indem das Entwerfen Synthese und Analyse zugleich sein kann. Die Erfahrung zeigt, dass uns das Entwerfen immer wieder zu den vermeintlichen Prämissen zurückführt und neue Fragen aufwirft. Dieses wiederholte Befragen der Voraussetzungen - zum Beispiel des Programms oder des Kontextes - mittels einer im Entstehen begriffenen Projektidee verhilft uns zu einem tieferen Verständnis eben dieser Voraussetzungen. Entwerfen ist - und dies ist in der Situation der Architekturschule besonders wichtig - auch ein Mittel der Erkenntnis. |
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