Die unsichtbaren Städte

Calvino, Italo (Carl Hanser Verlag, München 1977)

Die anderen Gesandten machen mich auf Hungersnöte, Erpressungen aufmerksam oder melden mir die Entdeckung von Türkisminen, vorteilhafte Preise für Marderfelle, Lieferangebote von Damaszenerklingen. Und du? lautete des Groß-Khans Frage an Polo. Du kehrst aus ebenso fernen Ländern zurück, und alles, was du mir zu sagen weißt, sind die Gedanken eines Menschen, der abends vor seiner Hausschwelle die Kühle genießt. Was nutzt dir dann das viele Reisen?

Es ist Abend, wir sitzen auf der Freitreppe deines Palastes, eine leichte Brise weht, erwiderte Marco Polo. Welches Land auch immer meine Worte um dich herum wachrufen, du wirst es stets von deiner Warte aus sehen, auch wenn an Stelle des Königspalastes ein Pfahlbaudorf steht und wenn die Brise dir den Geruch einer verschlammten Flußmündung zuträgt.

Mein Blick ist der eines Menschen, der in Versunkenheit sitzt und meditiert, ich gebe es zu. Doch der deine? Du überquerst Archipele und Tundren und Bergketten. Bliebest du hier, es wäre das gleiche.

Der Venezianer wußte, daß Kublai sich nur mit ihm anlegte, um einen eigenen Gedankengang besser verfolgen zu können, und daß seine Antworten und Einwände ihren Platz in einer Rede fanden, die sich schon selbständig in des Groß-Khans Sinn abspielte. Das heißt, es war für sie beide unerheblich, ob Fragen und Lösungen ausgesprochen wurden oder ob jeder von ihnen fortfuhr, sie schweigend zu überdenken. Tatsächlich blieben sie stumm, die Augen halb geschlossen, auf Kissen gestreckt, sich in Hängematten wiegend, lange Bernsteinpfeifen rauchend.

Marco Polo stellte sich vor zu antworten (oder Kublai Khan stellte sich seine Antwort vor), und je weiter er sich in den unbekannten Bezirken ferner Städte verlor, um so mehr verstand er die anderen Städte, durch die er gekommen war, um dorthin zu gelangen, und ging die Etappen seiner Reisen zurück und lernte den Hafen kennen, von dem er aufgebrochen war, und die vertrauten Plätze seiner Jugend und die Umgebung seines Zuhause und den Campiello in Venedig, über den er als Kind gerannt war.

Hier unterbrach ihn Kublai Khan oder stellte sich vor, ihn, zu unterbrechen, und Marco Polo stellte sich vor, mit einer Frage wie dieser unterbrochen zu werden: Gehst du denn mit stets rückwärts gewandtem Kopf voran? oder: Ist das, was du siehst, hinter deinem Rücken? oder, besser gesagt: Spielt sich deine Reise nur in der Vergangenheit ab? Dies alles nur, damit Marco Polo erklären oder sich vorstellen könne, zu erklären oder erklärend vorgestellt werden könne, oder es ihm endlich geIänge, sich selber zu erklären, daß das, was er suchte, immer etwas vor ihm Befindliches war, und auch, wenn es sich um die Vergangenheit handelte, es eine Vergangenheit war, die sich mit der Fortführung seiner Reise mehlig änderte, da sich ja die Vergangenheit eines Reisenden gemäß der Reiseroute ändert, und damit meinen wir nicht die nächste Vergangenheit, der jeder vorübergehende Tag einen Tag hinzufügt, sondern die weiter zurückliegende Vergangenheit. Bei seinem Eintreffen in jeder neuen Stadt findet der Reisende etwas von seiner Vergangenheit, das zu besitzen er nicht mehr gewußt hat: Die Fremdheit dessen, was du nicht mehr bist oder nicht mehr besitzt, erwartet dich auf der Schwelle fremder Orte, die du nicht besitzt.

Marco geht in eine Stadt; er sieht, wie jemand auf einem Platz ein Leben oder auch einen Augenblick lebt, welche die seinen hätten sein können; er hätte jetzt an der Stelle dieses Mannes sein können, wäre er vor langer Zeit in der Zeit stehengeblieben oder hätte er vor langer Zeit an einer Weggabelung nicht die eine entgegengesetzte Straße eingeschlagen und wäre nach langem Umherwandern an die Stelle dieses Mannes auf diesen Platz gekommen. Jetzt ist er von dieser echten oder angenommenen Vergangenheit ausgeschlossen; stehenbleiben kann er nicht; er muß weiter in eine andere Stadt, wo ihn eine andere Vergangenheit seiner selbst erwartet oder etwas, was für ihn vielleicht eine mögliche Zukunft gewesen war und jetzt die Gegenwart eines andern ist. Nicht verwirklichte Zukünfte sind nur Äste der Vergangenheit: verdorrte Äste. Reist du, um deine Vergangenheit wiederzuerleben? lautete an dieser Stelle des Khans Frage, die auch so formuliert hätte sein können: Reist du, um deine Zukunft wiederzufinden?

Und Marcos Antwort: Das Anderswo ist ein Spiegel im Negativ. Der Reisende erkennt das wenige, was sein ist, während dem er das viele entdeckt, was er nicht gehabt hat und nicht haben wird.

DIE STÄDTE UND DIE ERINNERUNG

In Maurilia wird der Reisende eingeladen, die Stadt zu besichtigen und zugleich gewisse alte Ansichtskarten zu betrachten, die zeigen, wie sie früher war: genau derselbe Platz mit einem Huhn anstelle des Autobusbahnhofs, dem Musikpavillon anstelle der †berführung, zwei Fräulein mit weißem Sonnenschirm anstelle der Munitionsfabrik. Um die Einwohner nicht zu enttäuschen, muß der Reisende die Stadt auf den Ansichtskarten loben und sie der heutigen vorziehen, jedoch darauf bedacht sein, das Bedauern im Rahmen genauer Regeln zu halten: zugegeben, daß Grossartigkeit und Wohlstand des zur Metropole gewordenen Maurilia, mißt man diese an dem alten provinziellen Maurilia, keinen Ersatz für eine gewisse verlorene Grazie bieten können, die allerdings auf den alten Karten nur jetzt gewürdigt werden kann, während man, das provinzielle Maurilia vor Augen, an Anmutigem wahrhaftig nichts sah und davon heutzutage noch weniger als nichts sehen würde, wenn Maurilia genauso geblieben wäre, und daß jedenfalls die Metropole noch diesen zusätzlichen Reiz bietet, daß man an Hand dessen, was sie geworden ist, mit Nostalgie an das denken kann, was sie gewesen ist.

Hütet euch, ihnen zu sagen, daß zuweilen verschiedene Städte auf demselben Boden und mit demselben Namen aufeinander folgen, entstehen und vergehen ohne gegenseitige Mitteilbarkeit. Manchmal bleiben auch die Namen der Einwohner und der Klang der Stimmen und sogar die Gesichtszüge die gleichen; doch die Götter, die unter den Namen und über den Orten thronen, sind wortlos gegangen, und an ihrer Stelle haben sich fremde Götter eingenistet. Unnütz zu fragen, ob sie besser oder schlechter sind als die alten, da es zwischen ihnen keinerlei Beziehung gibt, wie auch die alten Ansichtskarten nicht Maurilia darstellen, wie es war, sondern eine andere Stadt, die zufällig auch Maurilia hieß wie diese.

DIE STÄDTE UND DER WUNSCH

Im Zentrum Fedoras, der Metropole aus grauem Stein, steht ein metallener Palast mit einer Glaskugel in jedem Zimmer. In jeder Kugel erblickt man beim Hineinsehen eine blaue Stadt, das Modell für ein anderes Fedora. Es sind Formen, die die Stadt hätte annehmen können, wäre sie nicht aus diesem oder jenem Grunde so geworden, wie wir sie heute sehen. Es gab in jeder Epoche jemanden, der sich beim Anblick des damaligen Fedora vorstellte, wie man aus ihm eine ideale Stadt hätte machen können, doch schon während er sein Miniaturmodell baute, war Fedora nicht mehr das gleiche wie vorher, und was gestern eine mögliche Zukunft gewesen war, das war jetzt nur noch Spielzeug in einer Glaskugel.

Fedora hat heute in dem Palast der Kugeln sein Museum: Jeder Einwohner besucht es, wählt sich die Stadt aus, die seinen Wünschen entspricht, betrachtet sie und stellt sich dabei vor, daß er sich im Medusenteich spiegelt, der die Wasser des Kanals hätte sammeln sollen (wenn man ihn nicht trockengelegt hätte), daß er in Baldachinhöhe durch die Allee zieht, die den (jetzt aus der Stadt verbannten) Elefanten hätte vorbehalten sein sollen, daß er die Spirale des Wendeltreppenminaretts (das kein Fundament mehr fand, auf dem es hätte erstehen können) entlangrutscht.

Auf der Karte deines Imperiums, o großer Khan, müssen ebenso das große Fedora aus Stein wie die kleinen Fedoras in den Glaskugeln Platz finden. Nicht weil sie alle gleich real, sondern weil sie alle nur angenommen sind. Das eine birgt das für notwendig Gehaltene, während es dies noch nicht ist; die anderen das als möglich Erdachte, was es eine Minute später nicht mehr ist.

DIE STÄDTE UND DIE ZEICHEN

Der Reisende, der die Stadt noch nicht kennt, die ihn an seinem Weg erwartet, fragt sich, wie wohl das Königsschloß sein wird, die Mühle, das Theater, der Basar. In jeder Stadt des Imperiums ist jedes Gebäude anders und in anderer Weise angelegt; doch kaum erreicht der Fremdling die fremde Stadt und blickt mitten auf diesen Wald von Pagoden und Mansarden und Heuböden, folgt dem Gewirr von Kanälen, Gärten, Müllplätzen, dann merkt er sofort, was die Paläste der Fürsten sind, was die Tempel der Hohenpriester, das Gasthaus, das Gefängnis, das Ganovenviertel. So- sagen viele- bewahrheitet sich die Hypothese, daß jeder in seinem Sinn eine nur aus Unterschieden bestehende Stadt trägt, eine Stadt ohne Figuren und ohne Form, und daß die einzelnen Städte diese anfüllen. Nicht so in Zoe. An jeder Stelle dieser Stadt könnte man von Mal zu Mal schlafen, Gerätschaften herstellen, kochen, Goldmünzen anhäufen, sich entkleiden, herrschen, verkaufen, Orakel befragen. Jedwedes Giebeldach könnte ebensogut das Spital der Leprakranken wie die Thermen der Odalisken zudecken. Der Reisende geht umher und wieder umher und hat nichts als Zweifel: Es gelingt ihm nicht, die einzelnen Punkte der Stadt zu unterscheiden, und selbst die Punkte, die er in seinem Geiste unterscheidet, geraten ihm durcheinander. Er folgert daraus: Wenn die Existenz in allen ihren Momenten ganz sie selbst ist, so ist die Stadt Zoe der Ort der unteilbaren Existenz. Doch weshalb dann die Stadt? Welche Linie scheidet das Drinnen vom Draußen, das Rattern der Räder vom Geheul der Wölfe?

DIE SUBTILEN STÄDTE

Jetzt will ich von der Stadt Zenobia sprechen, die dies Wundersame hat: Obwohl auf trocknem Terrain erbaut, erhebt sie sich auf ganz hohen Pfählen, und die Häuser sind aus Bambus und Zink, mit vielen Söllern und Balkons, in unterschiedlicher Höhe auf einander sich übersteigenden Stelzen errichtet, durch Wendeltreppen und hängende Fußwege verbunden, darüber Aussichtstürme mit konischen Dächern, Fässer für die Wasserversorgung, Windfahnen, überragt von Flaschenzügen, langen Schnüren und Kränen. Was für ein Bedürfnis oder Gebot oder Begehr die Gründer Zenobias veranlasst hat, ihrer Stadt diese Gestalt zu geben, ist nicht mehr bekannt, also kann man nicht sagen, ob die Stadt, wie wir sie heute sehen und die auf das erste, nicht mehr entzifferbare Konzept hin vielleicht durch sukzessive †berlagerungen gewachsen ist, dem auch entspricht. Sagt man zu einem Einwohner von Zenobia, er möge beschreiben, wie er sich ein glückliches Leben denkt, so ist jedenfalls sicher, daß er sich immer eine Stadt wie Zenobia vorstellt, mit ihren Pfählen und schwebenden Treppen, ein Zenobia? das vielleicht ganz anders ist, mit flatternden Fahnen und Bändern, doch stets hervorgegangen aus der Kombination von Elementen jenes ersten Modells.

Daher ist es müßig festzustellen, ob Zenobia zu den glücklichen oder den unglücklichen Städten gezählt werden muß. Nicht in diese zwei Arten die Städte einzuteilen ist sinnvoll, sondern in zwei andere: jene, die über Jahre und Veränderungen hinweg den Wünschen stets ihre Gestalt geben, und jene, wo die Wünsche entweder die Stadt auszulöschen vermögen oder von ihr ausgelöscht werden.

DIE STÄDTE UND DER AUSTAUSCH

Achtzig Meilen dem Nordwestwind entgegen erreicht der Mensch die Stadt Eufemia, wo die Händler von sieben Nationen bei jeder Sonnenwende und jeder Tagundnachtgleiche zusammenkommen. Die Barke, die dort mit einer Fracht Ingwer und Baumwolle anlegt, wird mit dem Laderaum voller Pistazien und Mohnsamen wieder auslaufen, und die Karawane, die soeben Säcke mit Muskatnüssen und Zibeben abgeladen hat, packt schon wieder ihre Lasten aus Ballen golddurchwirkten Musselins für die Rückreise. Doch das, was einen flußaufwärts ziehen und Wüsten durchwandern läßt, um hierherzugelangen, ist nicht nur der Austausch von Waren, die du in allen Basaren innerhalb und außerhalb des Reiches des Groß-Khans stets von gleicher Art findest, vor deine Füße unordentlich hingeschüttet auf die gleichen gelben Matten im Schatten der gleichen Fliegenvorhänge und angeboten mit den gleichen verlogenen Preisnachlässen. Nicht nur um zu verkaufen und zu kaufen, kommt man nach Eufemia, sondern auch weil nachts, an den Feuern rings um den Marktplatz auf Säcken oder Fässern hockend oder auf Stapeln von Teppichen liegend, bei jedem Wort, das man sagt- wie Wolf, Schwester, verborgener Schatz, Kampf, Krätze, Liebende - , ein jeder von den andern seine Geschichte von Wölfen, Schwestern, Schätzen, Krätze, Liebenden, Kämpfen erzählt. Und du weißt? wenn man auf der langen Reise, die einem bevorsteht, allen seinen Erinnerungen einer nach der anderen nachsinnt, um beim Schaukeln des Kamels oder der Dschunke wach zu bleiben, daß dann dein Wolf ein anderer Wolf, deine Schwester eine andere Schwester, dein Kampf andere Kämpfe geworden sein werden, zurückkehrend aus Eufemia, der Stadt, wo man bei jeder Sonnenwende und jeder Tagundnachtgleiche seine Erinnerung austauscht.

. . . Neuankömmling in völliger Unkenntnis der Sprachen des Ostens, konnte sich Marco Polo nicht anders als dadurch ausdrücken, daß er Gegenstände aus seinem Gepäck hervorholte: Trommeln, gesalzenen Fisch, Halsketten aus den Zähnen des Warzenschweins, und daß er mit Gesten, Sprüngen, Ausrufen des Erstaunens oder Schreckens darauf deutete oder daß er das Bellen des Schakals und den Ruf der Schleiereule nachahmte. Nicht immer wurden dem Kaiser die Verbindungen zwischen dem einen Bestandteil der Erzählung und dem andern klar; die Gegenstände konnten verschiedenes ausdrücken wollen: Ein Köcher voller Pfeile bedeutete einmal einen bevorstehenden Krieg, ein andermal einen reichen Wildbestand oder auch das Geschäft eines Waffenhändlers; ein Stundenglas konnte die vergehende oder vergangene Zeit oder Sand oder eine Werkstatt bedeuten, die Stundengläser herstellte.

Was aber für Kublai jede Tatsache oder Kunde wertvoll machte, die ihm sein wortloser Berichter hinterbrachte, das war der Raum, der rings um sie verblieb, eine nicht mit Worten ausgefüllte Leere. Die Beschreibungen der von Marco Polo besuchten Städte besaßen diese Eigenart: daß man sich in Gedanken darin ergehen, sich in ihnen verlieren, in der Kühle dort verweilen oder auch eilig davonlaufen konnte.

Mit der Zeit nahmen in Marcos Erzählungen die Worte den Platz der Dinge und der Gesten ein: Ausrufe zunächst, einzelne Namen, karge Verben, sodann Satzperioden, verzweigte und verschnörkelte Reden, Metaphern und Gleichnisse.

Der Fremde hatte gelernt, die Sprache des Kaisers zu sprechen, oder der Kaiser, die des Fremden zu verstehen.

Doch man hätte sagen können, daß die Mitteilung zwischen ihnen nicht so glücklich war wie zuvor: Sicherlich dienten Worte besser als Dinge und Gesten, um das Wichtigste aus jeder Provinz und Stadt aufzuzählen: Denkmaler, Märkte, Sitten, Fauna und Flora; doch als Polo zu schildern begann, wie das Leben an jenen Orten wohl war, und dies Tag für Tag und Abend für Abend, da verließen ihn die Worte, und er kam nach und nach wieder auf Gesten, Grimassen, Blicke zurück.

So ließ er bei jeder Stadt den grundsätzlichen, mit genauen Worten formulierenden Meldungen einen stummen Kommentar folgen, hob die Hände mit aufwärtsgewandter Innen- oder Außenfläche oder auch im Profil, mit geraden oder schrägen, hektischen oder Ruhigen Bewegungen. Eine neue Art Dialog stellte sich zwischen ihnen her: Des Groß-Khans vollberingte weiße Hände erwiderten mit maßvollen Bewegungen den quirligen und knotigen des Händlers. Mit wachsendem Verstehen zwischen den beiden nahmen ihre Hände ständige Bewegungen an, deren jede in Wechsel und Wiederholung einer Gemütsbewegung entsprach. Und während das Vokabular der Dinge sich mit den Warenmustern erneuerte, zeigte das Repertoire der stummen Kommentare die Tendenz, sich festzufahren und zu erstarren. Auch die Lust, sich seiner zu bedienen, wurde bei beiden geringer; während ihrer Unterhaltungen verharrten sie zumeist stumm und regungslos.