Fassaden: Masken, Personen

Flusser, Vilém (Referat zum 2. Symposium "Intelligent Building". Universität Karlsruhe, Oktober 1991, leicht gekürzt.)

Das Thema, worüber ich zu Ihnen sprechen will, ist eine Fassade. Es soll meine Inkompetenz in Sachen Architektur maskieren. Und Sie sollen hoffentlich nicht dahinter kommen. Was ich da eben gesagt habe, ist nur scheinbar ein Widerspruch: Ich habe nur scheinbar meine Maske gelüftet, noch bevor ich sie mir aufgesetzt hatte. In Wirklichkeit habe ich mir nur eine Maske über eine andere gezogen: die Maske der Ehrlichkeit über jene des Experten. Vielleicht habe ich damit ein architektonisches Problem angesprochen, wie es zum Beispiel in Santiago de Compostella zu ersehn ist. Dort nämlich verhüllt eine barocke Fassade die dahinter stehende romanische, und die Frage, was von der romanischen Fassade verhüllt wird (nämlich ein ziemlich chaotischer Kirchenkomplex), wird dank dieser doppelten Verhüllung in den Hintergrund geschoben. Ob hier tatsächlich ein architektonisches Problem vorliegt, können Sie besser als ich beurteilen, aber zweifellos ist hier von jenem Problem die Rede, das wir mit dem sehr bedenklichen Wort "Person" zu umreißen versuchen.

Es sieht so aus, als ob das, was wir mit dem Wort "Ich" meinen, eine Reihe von einander überdeckenden Masken sei, die zwar einander, aber keinen sich hinter ihnen verbergenden Kern verhüllen. Wie bei der berüchtigten Zwiebel, bei deren Analyse wir schließlich entdecken, daß die entblätterten Hüllen nichts verhüllen. Um diese erschütternde Behauptung "es steckt nichts hinter mir" voll auszukosten, muß bedacht werden, was mit "Maske" gemeint ist. Man könnte vorschnell die folgende Definition von "Maske" versuchen: es ist eine Vorrichtung, die man sich vor das Gesicht setzt, damit die anderen sie für das wahre Gesicht halten. Eine betrügerische Vorrichtung zum Zweck des Ansehens und Aussehens im anderen. "Maske" ist, so wie ich wünsche auszusehen und seitens anderer angesehen zu werden, und dabei weiß, tatsächlich nicht auszusehen und daher nicht so angesehen werden zu sollen. (Diese Definition ist gewunden, weil die Maske selbst ein komplexer Schlich ist.) Aber es wird sehr bald deutlich, wie vorschnell so ein Definitionsversuch ist. Um dies vor Augen zu führen, seien zwei Maskenarten betrachtet: die des candomblé genannten Rituals und die des klassischen Theaters. Und dies, um zu zeigen, daß sich die Maske nicht eindeutig nach außen, zum anderen hin, wendet.

Es geht beim candomblé darum, einen Gott für eine spezifische Absicht (etwa um einen abtrünnigen Freund wieder-zugewinnen) zu mobilsieren. Mit dieser Absicht wird eine Zeremonie gefeiert, die den Gott heranlockt. Zum Beispiel wird der ihm sympathische Rhythmus getrommelt und der ihm entsprechende Tanzschritt von einigen sogenannten "Töchtern des Heiligen" in einem arena-artigen Ort unternommen. Gelingt dies, dann steigt der Gott herab, um eine der Tanzenden zu reiten. Die so zum Pferd gewordene Besessene wälzt sich nun auf dem Boden und schäumt vor dem Mund, wobei sie kurze stöhnende Schreie von sich gibt. Darauf wird ihr die Maske des sie reitenden Gottes übergezogen. Diese aus billigem Gewebe und silbernem und goldenem Papier verfertigte Maske bedeckt das Gesicht und den Körper. Unter der Maske verschwindet nun die alte Negerin, die wir eben noch tanzen und sich winden sahen, und es erscheint der Gott selbst auf der Bühne. Es ist aber nicht etwa so, als ob sich die unter der Maske verhüllte Frau nun so verhalte, als ob sie der Gott sei. Sondern sie ist nicht mehr da, und nur der Gott ist gegenwärtig. Die Frau hat sich unter der Maske völlig zum Gott verwandelt. Und wenn befragt, erklärt sie, sie sei in der Maske überhaupt erst zu sich gekommen, und vorher, vor dem Aufsetzen der Maske, sei sie außer sich gewesen. Die Maske ist demnach jene Vorrichtung, dank derer man überhaupt erst ein Selbst wird, und dies, weil man von den anderen so angesehen wird. Die Erklärung der alten Negerin steht mit der Erkenntnis der Existenzanalyse im Einklang.

Wenn man an das römische Theater denkt (so wie es zum Beispiel in Orange steht), dann hat man sich wohl einen Schuppen vorzustellen, der im Gebäude vorgesehen ist, und worin einige tragische und komische Masken gelagert werden. Der das Schauspiel programmierende Dramaturg (etwa Plautus) wird seine Handlung in Funktion der derart gelagerten Masken entwerfen. Möglicherweise wird er das Herstellen neuer, noch nicht vorhandener Masken fordern. Dann wird der Theaterdirektor einige Leute aus dem Publikum, dem undefinierten und undefinierbaren "man", hereinholen, um einem jeden von ihnen eine der verfügbaren Masken aufzusetzen. Sie werden in Funktion dieser Masken zu handeln haben, und diese Handlung durch Sprechen (also durch Denken) zu artikulieren haben. Damit die Handlung auf der Szene im öffentlichen Raum ersichtlich sei, werden sich die handelnden Leute (die "Aktoren") am besten auf stelzenartigen Schuhen bewegen. Und damit ihr Sprechen (und daher Denken) öffentlich vernehmbar sei, sind die Masken wie Lautsprecher gebaut, wie mit Löchern versehene Muscheln. Das Sprechen tönt durch die Maske hindurch in den Raum, und daher heißt die Maske persona (von personare = hindurchtönen). Die maskierten Handelnden dort auf der Szene sind zwar weiterhin so wie alle Leute im Publikum, aber dank der Maske erscheinen sie vorübergehend als Personen, sie haben ein öffentliches Ansehen und können öffentlich gehört werden und daher Gehorsam heischen. Dieses vorübergehende Ansehen kann dauerhafter werden. Man kann die Maske aus dem Theater ins Forum dort draußen tragen und in der Republik den Helden spielen. Dabei kann man versuchen, zugleich auch die eigene Rolle zu programmieren, die zu spielen dank Maske vorprogrammiert ist. Bei diesem Versuch, viele Stunden des Tages eine öffentliche Rolle zu spielen, kann die Maske gewissermaßen ans Gesicht anwachsen, mit der Gesichtshaut verwachsen. Man wird dann zu einer Person, auch wenn man sich dabei der Verkleidung bewußt ist, weil nämlich das Abnehmen der Maske (die Ehrlichkeit) einem Herunterreißen der Haut, einer Selbstzerfleischung gleichkommt. Die Republik, derart zu Theater maskiert (oder das Theater, das derart den öffentlichen Raum überflutet), verteilt dann auf kybernetisch undurchsichtige Methoden die Masken und die mit ihnen verbundenen Rollen, wobei die zu Personen maskierten Handelnden nur unter Aufwand von übermenschlichen Kräften sich entmaskieren können. Es ist etwa für den politisch engagierten Helden bequemer, den vorgeschriebenen Heldentod auf sich zu nehmen, als anderen und sich selbst die Hohlheit dieser Maske ersichtlich werden zu lassen. Die epileptisch sich windende Tänzerin erfüllt ihre Maske besser und spielt ihre Rolle ehrlicher als die auf Fernsehschirmen erscheinenden Staatspräsidenten, aber auch als wir selbst, die wir nacheinander verschiedene Rollen spielen.

Denn was aus der Betrachtung der beiden Maskenarten erleuchten soll, ist eine spezifische Sicht auf die Geschichte. Zu Beginn, in der sogenannten Vorgeschichte, gibt es in jeder Gesellschaft, in jedem Stamm, eine begrenzte Zahl von Masken. Etwa die des Känguruhs und die des Hundes. Solange man die Maske nicht trägt und in ihr tanzt, spielt man überhaupt keine Rolle. Erst in der Maske kommt man zu sich, und man selbst und die anderen erkennen, daß man eigentlich nicht "man", sondern Känguruh ist. Mit der Geschichte werden die verfügbaren Masken immer zahlreicher, und sie können sowohl hintereinander als auch übereinander getragen werden. Man kann nacheinander oder zugleich die Maske des Vaters, des Schriftstellers, des Steuerzahlers und des Parteimitglieds tragen, und nacheinander oder zugleich die entsprechenden Rollen tanzen. Diese Entfaltung des Maskenfächers hat eine widerspruchsvolle Folge: einerseits verwachsen die Masken miteinander und mit dem ursprünglichen unansehnlichen Aussehn, und können nicht mehr ohne Gewalt abgenommen werden, und andererseits beweist die Vielfalt und Mischbarkeit der Masken die darin verborgene Hohlheit. Bis man schließlich gezwungen ist, ununterbrochen eine Rolle zu spielen, und sich dabei dessen bewußt ist, eine Rolle zu spielen. Anders gesagt: man ist gezwungen, eine Person zu sein, und dabei zu wissen, daß "Person" eine Vorrichtung ist, die für das Spielen von Rollen programmiert ist.

Nach diesem langen Exkurs in sagen wir einmal Existenzanalyse werde ich versuchen, den Bogen zur Architektur zu spannen. Das fällt mir leicht, da ich ja diesen Exkurs im Namen des Wortes "Fassade" unternommen habe. "Fassade" meint ja Gesicht, und zwar jenes Gesicht, unter dem sich Gebäude maskieren, um ein öffentliches Ansehen zu haben, und um eine Rolle zu spielen. Die vorangegangenen Überlegungen deuten an, daß Fassaden nicht einfach jene Seite des Gebäudes sein können, dank derer sich die Gebäude nach außen, an die Öffentlichkeit wenden. Sondern daß Gebäude erst dank Fassaden zu sich selbst kommen können, gewissermaßen aus anonymen Stoffen zu Personen werden. Daß also Fassaden nicht etwa im Nachhinein einem Gebäude aufgesetzt werden, um es ansehnlich zu machen, sondern daß Architekten Leute sind, die (ähnlich wie Dramaturgen) Gebäude in Funktion von Fassaden, Handlungen in Funktion von Rollen entwerfen. Falls man mit Fassade (Maske) eine betrügerische Vorrichtung meint, dann heißt dies, daß Architekten Künstler sind, nämlich am Schein und am Schönen engagiert sind.

Wenn nun Fassaden jene Vorrichtungen sind, welche den Gebäuden ihre Funktion vorschreiben, (wie Masken jene Vorrichtungen, in Funktion derer sich die Handelnden verhalten), dann werden zwei eigenartige Probleme der Architektur ersichtlich. Das erste betrifft die Frage, nach welchen Kriterien die Architekten ihre Fassaden wählen. Das zweite, wie die Spannung zwischen Fassade und Funktion zu erklären sei, wenn die Funktion der Fassade folgt (function follows form). Zum Beispiel: nach welchen Kriterien wählt ein Architekt die Form eines griechischen Tempels als Fassade einer Bank, und wie ist die Spannung zwischen dieser Form und der Bankfunktion zu deuten? Diese beiden einander bedingenden Probleme gestatten vielleicht Einblick in den gegenwärtigen Zwiespalt zwischen der Moderne und der sogenannten Postmoderne.

Der Vergleich zwischen Maske und Fassade sei am Beispiel des römischen Theaters wieder aufgenommen. Dem römischen Dramaturgen stehen einige aus der Tradition hergebrachte Masken zur Verfügung, um in ihrer Funktion eine Handlung zu programmieren. Es kann geschehen, daß diese Masken einer neuartigen Handlungsart nicht entsprechen. So mag etwa für bestimmte imperiale Handlungsweisen im republikanischen Maskenschuppen keine entsprechende Maske lagern. In so einem Fall steht es dem Dramturgen offen, eine neue Maske herzustellen. Wird diese Maske einem die neue Rolle spielenden Handelnden aufgesetzt, dann erst wird die neue Funktion ansichtig werden. Zum Beispiel ist die Funktion des Imperators zwar als Virtualität in den Vorgängen des ersten Jahrhunderts angelegt, wird aber dank einer eigens hergestellten Imperatorenmaske ersichtlich. Jener Dramaturg, der neue Masken herstellt, um neuen Funktionen Ansehen und Person zu verleihen, und sie eine Rolle spielen zu lassen, kann im Licht der gegenwärtigen Diskussion "modern" genannt werden. Und jener andere, der zu hergebrachten Masken greift, um einer neuen Virtualität zu Ansehen zu verhelfen, und diese neue Funktion im Mäntelchen einer hergebrachten eine Rolle spielen zu lassen, kann "postmodern" heißen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Einstellungen kann so vor Augen geführt werden: Der moderne Dramaturg und Architekt wird von einem Strom sich ständig verändernder Masken und Fassaden, von der Masken- und Fassadengeschichte mitgerissen. Seine Aufgabe ist, die aus der Vergangenheit herankommenden Fassaden neu zu gestalten, sie zu modellieren, damit sie immer neuen Funktionen zu einer Rolle, zu ihrer Verwirklichung, verhelfen mögen. Für den modernen Architekten gibt es demnach eine Fassadenentwicklung, an welcher er aktiv teilnimmt, und eine Dialektik zwischen Fassade und Funktion, dank welcher aus neuen Fassaden neue Funktionen, und aus neuen Funktionen neue Fassaden entstehen. Der postmoderne Architekt steht über einem Lager verfügbarer Fassaden, von denen jede in der Vergangenheit eine Funktion oder einige Funktionen realisiert hat, und er greift von oben her in dieses Lager ein, um eine Fassade herauszugreifen und sie mit neuer Funktion zu füllen. Für den post-modernen Architekten gibt es eine begrenzte Menge von verfügbaren Fassaden (Formen im platonischen Sinn), die raum- und zeitlos lagern, und die einzeln abgerufen werden können, um immer neuen Funktionen Form zu geben. Der moderne Architekt (und Mensch überhaupt) denkt und handelt, erlebt und wertet prozessuell, funktionell, historisch, und der post-moderne Architekt (der Mensch überhaupt) denkt und handelt, erlebt und wertet formal, strukturell, nachgeschichtlich. Besser als auf anderen Gebieten wird in der Architektur dieser Bruch zwischen den beiden Mentalitäten ersichtlich.

Dieser Vortrag ist in einem nachgeschichtlichen Geist gehalten worden. Wer seinem Argument folgt, der sieht zeitlose, unveränderliche Formen, wie sie etwa dank Computer und Plotter aus Algorithmen als Flächen auf Schirmen erscheinen, und diese Formen werden auf das Geschehen aufgesetzt, damit es überhaupt erst funktioniere. Die zeitlosen, unveränderlichen Formen werden als Masken Akteuren aufgesetzt, damit sie überhaupt erst eine Rolle spielen können. Sie werden als Fassaden Gebäuden aufgesetzt, damit sie überhaupt erst die ihnen entsprechende, ihnen vorprogrammierte Funktion ausüben können. Sie werden jedem von uns nacheinander oder übereinander aufgesetzt, damit wir überhaupt erst "ich" zu uns selbst und "du" zum anderen sagen, damit wir überhaupt erst Personen werden. Wer diesem Vortrag folgt, der sieht einen amorphen Strom von Erscheinungen, auf welchen raum- und zeitlose Formen ihre Spuren drücken, um ihn zu informieren. Und er sieht das menschliche (auch das architektonische) Engagement als den Versuch, Formen aus ihrem Lager abzurufen, um dem amorphen Geschehen überhaupt erst einen Sinn zu verleihen.

Allerdings: wer historisch denkt, der wird diesem Vortrag nur unwillig folgen. Für ihn sind Formen Produkte des sogenannten Zeitgeists, also menschliche Erzeugnisse, und Aufgabe des Menschen (auch des Architekten) ist, aus dem Zeitgeist heraus immer neue Formen zu basteln und den Zeitgeist derart voranzutreiben. Der Unterschied zwischen beiden Einstellungen zur Form ist radikal, und kann so ausgedrückt werden: wer historisch denkt, der glaubt an einen Kern im Menschen, von dem aus Formen hergestellt werden, und wer posthistorisch denkt, der glaubt, dieser angebliche Kern sei selbst eine Folge einer spezifischen Form. Es ist hier weder der Ort noch die Zeit, diese Frage zu entscheiden. Alles scheint dafür zu sprechen, daß wir den Glauben an ein Selbst, an einen Autor von Handlungen, von Rollen, von Masken, von Fassaden, aufgeben müssen. Aber dennoch ist es ja wesentlich für jeden Glauben, daß er allen Argumenten widersteht, daß er absurd ist.

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