Gibson, William (Wilhelm Heyne Verlag, München, 1986)
Ich legte die Knarre in eine Adidas-Tasche und stopfte sie mit vier Paar Tennissocken aus, was überhaupt nicht mein Stil war, aber ich hatte mir vorgenommen: Wenn sie dich für primitiv halten, werde technisch; wenn sie dich für technisch halten, werde primitiv. Ich bin ein ausgesprochen technischer Typ. Also nahm ich mir vor, möglichst primitiv zu werden. Dabei muss man heutzutage allerdings erst ziemlich technisch sein, bevor man überhaupt brutal werden kann. Ich hatte die beiden zwölfkalibrigen Patronen auf der Drehbank aus Messing anfertigen und dann selber laden müssen; ich musste ein altes Mikrofiche ausgraben, wo erklärt wird, wie man Patronen von Hand lädt; ich musste das Schloss für die Zündbolzen umbauen - alles recht kompliziert. Aber ich wusste, dass die Dinger gehn.
Treffpunkt war 23 Uhr im Drome, aber ich fuhr mit der U-Bahn drei Stationen weiter als zur nächsten Haltestelle und latschte zu Fuss zurück. Tadelloser Vorgang.
Ich musterte mich in der verchromten Seitenwand eines Kaffeekiosks, die normalen, scharfen kaukasoiden Züge mit dem struppigen dunklen Haarschopf. Die Mädchen im Under the Knife waren Sony Mao-mäBig aufgemacht; und es wurde zusehends schwieriger, sie davon abzuhalten, sich den schicken Anschein von Mongolenfalten zuzulegen. Davon wohl kaum täuschen liesse sich Ralfi Face, aber es brächte mich vielleicht nah an seinen Tisch ran. Das Drome ist ein einziger schmaler Raum mit einem Tresen entlang der einen und Tischen entlang der andern Seite und voller Zuhälter und Kuppler und einer Vielzahl heimlicher Dealer. Die Magnetic Dog Sisters waren an dem Abend an der Tür, und ich war nicht scharf darauf, an denen vorbei rauszumüssen, falls die Sache nicht klappte. Die Schwestern waren zwei Meter lang und dünn wie Windhunde. Die eine war schwarz und die andre weiss, aber darüber hinaus glichen sie sich, soweit die kosmetische Chirurgie es möglich machte. Sie waren seit Jahren ein Liebespaar und bedeuteten bei Stunk nichts Gutes. Ich war mir nie sicher, wer von den beiden ursprünglich der Mann gewesen war.
Ralfi sass an seinem Stammtisch. Schuldete mir âne Menge Geld. Ich hatte Hunderte von Megebytes auf "idiot basis" in meinem Kopf gehortet - Informationen, zu denen ich keinen bewussten Zugang hatte. Ralfi hatte sie deponiert. Er hatte sie sich allerdings nicht wiedergeholt. Nur Ralfi konnte mittels eines frei erfundenen Codewortes wieder an die Daten rankommen. Ich bin zunächst mal nicht billig, aber die überzogene Speicherzeit ist astronomisch. Und Ralfi hatte sich verflucht rar gemacht.
Dann hatte ich gehört, dass Ralfi Face einen Kontrakt auf mich rausgeben wolle. Also arrangierte ich ein Treffen im Drome, allerdings als Edward Bax, Importeur von Schleichware, vormals Rio und Peking.
Im Drome roch es nach Geschäft, roch es metallisch nervös. Muskelknaben im Publikum protzten mit ihrem Inventar und bemühten sich um ein schmales, cooles Grinsen; manche gingen unter den Superformen aufgepfropfter Muskelbündel glatt unter, so dass sie nicht unbedingt menschliche Umrisse aufwiesen.
Pardon. Pardon, Freunde. Ist nur Eddie Bax, der schnelle Eddie, der Importeur mit seiner undefinierbaren Profi-Sporttasche; und den Schlitz, durch den eben seine rechte Hand paBt, bitte ignorieren.
Ralfi war nicht allein. Achtzig Kilo blondes kalifornisches Beefsteak, dem der Kampfsport überall anzusehen war, kauerten wachsam auf dem Stuhl daneben.
Der schnelle Eddie Bax war auf dem Stuhl gegenüber, bevor das Beefsteak die Hände vom Tisch nehmen konnte. "Schwarzer Gürtel?" fragte ich gespannt. Er nickte, wobei die blauen Augen automatisch meine Augen und Hände checkten. "Ich auch", sagte ich. "Hab meinen in der Tasche drin." Und ich schob die Hand durch den Schlitz und löste mit dem Daumen die Sicherung. Klick. "Doppelt-zwölflkalibrig, mit Draht gekoppelter Abzug."
"Ist âne Knarre", sagte Ralfi und hielt seinem Knaben beschwichtigend die plumpe Hand vor die mit blauem Nylon bespannte Brust. "Johnny hat âne altertümliche Feuerwaffe in der Tasche." So viel also zu Edward Bax.
Ich schätze, er heisst schon immer Ralfi Soundso, aber seinen erworbenen Nachnamen verdankt er einer einmaligen Eitelkeit. In etwa wie eine überreife Birne gebaut, hatte er zwanzig Jahre das einst berühmte Gesicht von Christian White getragen - Christian W>ite von der Aryan Reggae Band, der Sony Mayo seiner Generation und zuletzt Champion des Rassen-Rock. Ich kenn mich aus mit solchem Kram.
Christian White: klassisches Popstar-Gesicht mit ausgeprägter Sänger-Muskulatur, scharf geschnittenen Wangen. Engelhaft aus einer, hübsch lasterhaft aus andrer Perspektive. Aber hinter diesem Gesicht lebten Ralfis Augen, und sie waren klein, kalt und schwarz.
"Bitte", sagte er, "klären wir das wie Geschäftsleute, okay?" Seine Stimme verriet eine schrecklich griffige Ehrlichkeit, und die Winkel seines hübschen Christian White-Munds waren immer feucht. "Der Lewis", sagte er und nickte in Richtung Beefboy, "istÕn Knödel." Lewis nahm das gleichmütig hin und sah aus wie aus dem Baukasten. >>Du bist kein Knödel, Johnny."
"Sicher, Ralfi, ein schöner Knödel, zum Brechen voll mit Implants, wo du deine schmutzige Wäsche hintust, während du losgehst und Killer für mich einkaufst. Von meinem Ende der Tasche, Ralfi, siehtÕs so aus, dass du mir âne Erklärung schuldest."
"Ist der letzte Schub Ware, Johnny." Er seufzte tief. "In meiner Rolle als Makler ..."
"Hehler<<, korrigierte ich.
>>Als Makler bin ich normalerweise sehr vorsichtig, was meine Quellen angeht."
"Du kaufst nur von denen, die das Beste stehlen. Schon klar."
Er seufzte wieder. "Ich versuche", sagte er lustlos, "nicht von Idioten zu kaufen. Diesmal ist mir das, fürchte ich, passiert." Der dritte Seufzer war für Lewis das Stichwort, den Neuralunterbrecher anzuschalten, den sie auf meiner Seite unter die Tischplatte geklebt hatten.
Ich legte alles, was ich hatte, in meinen rechten Zeigefinger, den ich krümmen wollte, aber irgendwie schien die Verbindung gekappt zu sein. Ich fühlte das Metall der Knarre und das schaumstoffunterlegte Klebeband, mit dem ich den Griffstummel umwickelt hatte, aber meine Hände waren wie kaltes Wachs - entrückt und regungslos. Ich hoffte, Lewis war ein echter Knödel und blöd genug, sich die Sporttasche zu greifen und damit meinen steifen Finger gegen den Abzug zu drücken, aber das war er nicht.
"Waren sehr besorgt um dich, Johnny. Sehr besorgt. Schau, was du da hast, ist Yakuza- Eigentum. Ein dummer Bursche hatÕs ihnen weggenommen. Ein toter Bursche. "
Lewis kicherte.
Nun machte es alles Sinn, gräBlich viel Sinn, und mir war, als wäre mein Schädel in nasse Sandsäcke gepackt. Das Killen war nicht Ralfis Stil. Nicht mal Lewis war Ralfis Stil. Aber er war zwischen die Söhne des Neonchrysanthemum und etwas, das ihnen gehörte, geraten - oder wohl eher etwas von ihnen, das jemand anders gehörte. Ralfi könnte natürlich das Codewort benutzen und mich auf "idiot" stellen, so dass ich ihr heisses Programm ausspucken würde, ohne mich später auch nur an eine einzige Silbe zu erinnern. Für einen Hehler wie Ralfi wäre das normalerweise genug. Aber nicht für die Yakuza. Die Yakuza wüssten zum einen von Squids und würden nicht riskieren wollen, dass mir so ein Squid die schwachen, dauerhaften Spuren ihres Programms aus dem Kopf herausholt. Ich wusste nicht recht viel über Squids, aber ich hatte da Geschichten gehört, die ich meinen Klienten prinzipiell vorenthielt. Nein, den Yakuza würde das nicht gefallen; es wirkte verdächtig. Und sie waren nicht hingekommen, wo sie waren, indem sie Verdachtsmomente zurückliessen. Oder am Leben liessen.
Lewis grinste. Ich glaube, er fixierte einen Punkt unmittelbar hinter meiner Stirn und stellte sich vor, wie er auf die grobe Art dorthin käme.
"Heh", sagte eine tiefe Frauenstimme irgendwo hinter meiner rechten Schulter, "was macht ihr Cowboys nur für öde Gesichter?"
"Verpiss dich, Luder!" sagte Lewis, und seine sonnengebräunten Züge blieben gelassen. Ralfi guckte.
"Kopf hoch. Wollt ihr nicht âne gute freie Basis kaufen?" Sie zog einen Stuhl vor und setzte sich schnell, bevor einer der beiden sie daran hindern konnte. Sie war gerade noch innerhalb meines starren Blickfelds: ein dünnes Mädchen mit verspiegelter Brille und einer dunklen, ziemlich fransig geschnittenen Mähne. Sie trug die schwarze Lederjacke offen über einem T-Shirt mit rot-schwarzen Diagonalstreifen. "Achttausend pro Gramm. " Lewis prustete ärgerlich und versuchte, sie vom Stuhl zu stopsen. Irgendwie langte er nicht ganz hinüber, und sie hob die Hand und strich über seinen herankommenden Unterarm. Helles Blut spritzte auf den Tisch. Er hielt sich das Handgelenk, dass die Knöchel weiss wurden. Blut lief über die Finger.
Aber war ihre Hand nicht leer gewesen?
Die Sehne wäre zu nähen. Behutsam stand er auf, ohne gross den Stuhl zurockzuschieben. Der Stuhl kippte nach hinten, und Lewis verschwand ohne ein Wort aus meinem Blickfeld.
"Sollte sich das von einem Doktor ansehen lassen", sagte sie. "IstÕn böser Schnitt."
"Du hast keine Ahnung", meinte Ralfi, der plötzlich sehr müde klang, "wie tief du dich damit in die Scheisse gesetzt hast."
"Echt? Ist mir ein Rätsel. Ich steh auf Rätsel. Beispielsweise warum euer Freund so still ist. Beziehungsweise starr. Oder wofür das Ding hier gut ist", womit sie die kleine Schaltung hochhielt, die sie Lewis irgendwie abgenommen hatte. Ralfi sah elend aus. "Du, ah, willst etwa âne Viertelmillion, damit du mir das gibst und weiterspazierst?" Eine fette Hand kam hoch und strich nervös durchs blasse, hagere Gesicht. "Was ich will", sagte sie und schnippte mit den Fingern, dass die wackelnde Schaltung aufblitzte, "ist Arbeit. Ein Job. Dein Knabe hat sich das Handgelenk verletzt. Aber âne Viertelmillion ist völlig okay als Vorschuss."
Ralfi atmete prustend aus und fing zu lachen an, wobei er seine Zähne zeigte, die dem Christian WhiteStandard nicht mehr gerecht wurden. Darauf schaltete sie den Neuralunterbrecher ab.
"Zwei Millionen", sagte ich. "Bist mein Typ", erwiderte sie lachend. "Was haste in der Tasche?" "Eine Kanone." "Brutal." Das war vielleicht ein Kompliment. Ralfi sagte kein Wort mehr. "Heisse Millions. Molly Millions. Du willst raus von hier, Boss? Die Leute schauen schon." Sie stand auf. Sie trug eine Lederhose in der Farbe von getrocknetem Blut. Und ich sah zum ersten Mal, dass die verspiegelten Gläser chirurgisch eingepaGt waren und über den hohen Wangen wie ein Deckel auf den Augenhöhlen sassen. In den Gläsern sah ich doppelt mein neues Gesicht.
"Ich heiss Johnny", sagte ich. "Mr. Face nehmen wir mit. " Er wartete draussen. Sah aus wie ein typischer Tourist, ein Tech mit Plastikbadeschuhen und einem albernen Hawaihemd, das vergrössert bedruckt war mit dem populärsten Microprocessor seiner Firma; ein harmloser kleiner Typ von der Sorte, die wahrscheinlich vom vielen Sake besoffen in einer der Bars enden, wo man Miniaturkekse aus Reis mit Seetanggarnierung kriegt. Er sah aus wie die Sorte, die flennen, wenn sie die Firmenhymne blöken, und die dem Barkeeper endlos die Hand schütteln. Und die Kuppler und Dealer, die ihn als von Natur aus konservativ einstuften, liessen ihn zufrieden. So einer hat nicht viel vor und paGt, wenn doch, auf sein Geld und seinen Ruf auf.
Wie ich mir später erklärte, hatten sie wohl seinen linken Daumen etwa ab dem ersten Gelenk amputiert und durch eine prothetische Spitze ersetzt und den Stummel ausgehöhlt und mit Spule und Sockel aus einem Diamantanalogon von Ono-Sendai bestackt. Dann hatten sie die Spule sorgfältig mit drei Meter einer monomolekularen Faser umwickelt. Molly begann eine Art Gespräch mit den Magnetic Dog Sisters, so dass ich Gelegenheit hatte, Ralfi durch die Tür zu schieben, indem ich ihm die Sporttasche sachte ins Kreuz drückte. Molly schien die Sisters zu kennen. Ich hörte die Schwarze lachen. Aus irgendeinem flüchtigen Reflex heraus blickte ich auf, vielleicht weil ich mich nie an sie gewöhnen konnte, die gleissenden Lichtbögen und die Schatten der geodätischen Kuppeln darüber. Das war vielleicht meine Rettung.
Ralfi ging weiter, wollte aber, wie ich meine, nicht türmen. Ich glaube, er hatte schon aufgegeben. Vermutlich konnte er sich denken, was wir vorhatten. Als ich den Blick wieder senkte und ihn anschaute, sah ich ihn gerade noch explodieren. Playback der Sinneseindrücke zeigt, wie Ralfi vorausgeht, während irgendwo seitlich aus dem Nichts der lächelnde kleine Tech auftaucht. Nur eine angedeutete Verbeugung, und der linke Daumen fällt ab. Zaubertrick. Der Daumen baumelt in der Luft. Spiegel? Drähte? Und Ralfi bleibt, den Rücken zu uns gekehrt, stehen. Dunkle SchweiEränder unter den Achseln seines hellen Sommeranzugs. Er weiss es. Er muss es gewusst haben. Und dann schnellt der magische, bleischwere Daumen in einem rasanten Jo-Jo-Trick vor, und der unsichtbare Faden, der ihn mit der Killerhand verbindet, schneidet seitlich unmittelbar über den Brauen durch Ralfis Schädel, peitscht nach oben und fährt nieder und trennt dabei diagonal zwischen Schulter und Brustkorb ein birnenförmiges Stück Torso heraus. Schneidet so fein, dass kein Blut fliesst, bis Synapsen fehlschalten und erste Zuckungen den Körper der Schwerkraft ausliefern.
Ralfi zerfiel in einer rosaroten Wolke von Körperflüssigkeiten, und die drei ungleichen Teile purzelten vornüber aufs Pflaster. Ohne einen Laut. Ich riss die Sporttasche hoch, und meine Hand krampfte sich zusammen. Der Rückstoss hätte mir beinahe das Handgelenk gebrochen.
Es muss geregnet haben. In Strömen goss es durch eine rissige Kuppel aufs Pflaster hinter uns. Wir duckten uns in die schmale Nische zwischen einer chirurgischen Boutique und einem Antiquitätengeschäft. Sie hatte gerade mit einem verspiegelten Auge um die Ecke gelugt und meldete ein Volksmodul mit blitzendem Rotlicht vor dem Drome. Ralfi wurde aufgewischt. Fragen wurden gestellt.
Ich war mit versengten weissen Flusen bedeckt. Die Tennissocken. Die Sporttasche war wie eine zerfetzte Plastikmanschette über meinen Unterarm gestülpt. "Kapier ich nicht, wie ich den, verdammt noch mal, verfehlen konnte." "Weil er flink ist, so flink." Sie schlang die Arme um die Knie und wippte auf ihren Stiefelabsätzen hin und her. "Sein Nervensystem ist auffrisiert. Sonderanfertigung." Sie grinste und quiekte vergnügt. "Ich muss den Knaben kriegen. HeutÕ nacht. Er ist der Beste, spitzenmäGig, vom Feinsten, neuester Stand der Technik." "Dein Freund von vorhin stammt gröRtenteils aus einem Labor in Chiba City. IstÕn Yakuza- Killer."
"Chiba. Tja. Schau, Molly war auch in Chiba." Und sie zeigte mir ihre Hände mit den leicht gespreizten Fingern. Ihre Finger waren schlank, verjüngten sich und wirkten sehr blass durch die burgunderrot lackierten Nägel. Zehn Klingen schoben sich aus der Versenkung unter den Nägeln, schmale, zweischneidige Skalpellklingen aus hellblauem Stahl.
Ich hatte mich nie lange in Nighttown aufgehalten. Keiner dort hatte was, um mich fürs Erinnern zu bezahlen, und die meisten hatten viel, wofür sie regelmäGig fürs Vergessen zahlten. Generationen von Scharfschntzen hatten aufs Neon geballert, bis die Wartungsmannschaften aufgaben. Selbst am Mittag war es in den Wölbungen stockfinster. Wohin geht man, wenn die reichste Verbrechersippe der Welt mit ruhigen Fingern aus der Ferne nach einem greift? Wo versteckt man sich vor dem Yakuza, der so mächtig ist, dass er eigene Kommsatelliten und wenigstens drei Raumfähren besitzt? Der Yakuza ist multinational wie ITT oder Ono-Sendai. Schon fünfzig Jahre vor meiner Geburt hatte sich der Yakuza die Triaden, die Mafia und die Korsische Union angeeignet.
Molly hatte eine Antwort: Man versteckt sich im Loch, im untersten Kreis, wo jeder äussere Einfluss schnell bedrohliche konzentrische Wellen schlägt. Man versteckt sich in Nighttown. Noch besser über Nighttown, denn das Loch ist umgestülpt, und der Grubenboden berührt den Himmel, den Himmel, den die unterm eigenen Acrylharzfirmament schwitzende Nighttown nie sieht; man versteckt sich droben, wo im Dunkeln untierhaft die Lo Teks kauern, denen die Schwarzmarktzigarette von den Lippen baumelt.
Sie hatte noch eine Antwort parat.
"Du bist also niet- und nagelfest, Johnny? Keine Chance, ohne Losung ans Programm
ranzukommen?" Sie führte mich in den Schatten, der hinter dem hellen U-Bahnsteig lauerte.
Die Betonwände waren mit ganzen Schichten von Graffiti bedeckt, die sich mit den Jahren
zu einem einzigen Gekritzel wallender Wut und Ohnmacht verquirlten.
"Die abgespeicherten Daten werden durch eine modifizierte Serie mikrochirurgischer kontraautistischer Prothesen eingespeist." Ich leierte eine saftlose Version meines Standardverkaufsgesprächs herunter. ,>Der Code des Klienten ist in einem eigenen Chip gespeichert; von Squids abgesehen, worober wir in unsrer Branche nicht gern reden, gibt es keine Möglichkeit, an den Inhalt heranzukommen. KriegtÕs nicht mit Drogen, nicht mit dem Messer, nicht mit Folter heraus. Ich zueiJ] es nicht, habÕs nie gewusst."
"Squids?" Wir kamen auf einen menschenleeren Markt. Düstere Gestalten musterten uns von der andern Seite des provisorischen Platzes, der mit Fischköpfen und fanlem Obst übersät war.
"Supraleitende Quantu m-Interferenz-Detektoren. Wurden im Krieg benutzt, um U-Boote zu orten und kybernetische Systeme des Feindes auszutricksen."
>>So? Marinezeugs? Vom Krieg? SoÕn Squid kann deinen Chip lesen?~< Sie blieb stehen, und ich spürte, dass sie mich hinter den verspiegelten Gläsern fixierte.
"Sogar die primitiven Modelle konnten ein Magnetfeld erfassen, das ein Milliardstel der geomagnetischen Feldstärke aufwies. Ist so, wie wenn man aus einem grölenden Stadion ein Flüstern herausholt."
"Die Bullen können das mit parabolischem Mikrofon und Laser."
"Aber trotzdem sind die Daten sicher." Berufsehre. "Keine Regierung gibt ihren Bullen Squids, nicht mal den Spezialeinheiten. Zu grosses Risiko für krumme Touren zwischen einzelnen Ministerien; sie spielen bald Watergate mit dir."
"Marinezeugs", sagte sie, und ihr Grinsen leuchtete im Dunkeln. "Marinezeugs. Ich hab ânen Freund hier unten, der war bei der Marine. Heisst Jones. Den solltest du treffen. Er ist allerdings ein Junkie. Also werden wir ihm was mitbringen müssen." "Ein Junkie?"
"Ein Delphin."
Er war mehr als ein Delphin, in den Augen eines anderen Delphins jedoch eher weniger. Ich beobachtete, wie er sich träge in seinem galvanisierten Becken bewegte. Wasser schwappte über, und ich bekam nasse Schuhe, Er war ein Uberbleibsel des letzten Kriegs. Ein Cyborg. Er hob sich aus dem Wasser und zeigte uns die verkrusteten Platten an seinen Seiten, eine Art visuelles Wortspiel, da von seiner Anmut nicht viel übrigblieb angesichts der ausgeprägten Panzerung, die plump und altertümlich wirkte. Zwei Wülste an jeder Schädelseite bargen Sensoren. Silberne Wunden glänzten an offenen Stellen seiner weiGgrauen Haut.
Molly pfiff. Jones wackelte mit dem Schwanz, und wieder schwappte Wasser über den Beckenrand.
"Wo sind wir hier?" Ich beäugte sonderbare Formen im Dunkeln, rostige Ketten und mit Planen verhüllte Gegenstände. Uber dem Tank hing ein roh gezimmerter Holzrahmen, in dem krenzweise Reihen von staubiger Christbaumbeleuchtung steckten.
"Funland. Ein Zoo und Vergnügungspark. >Red mit dem Kriegs-< und soÕn Zeugs." Jones richtete sich wieder auf und fixierte mich mit einem traurigen, steinalten Auge. "Wie redet er?" Plötzlich drängte ich zum Weitergehn.
"Das ist der Kniff dabei. Sag guten Tag, Jones."
Und alle Lampen gingen gleichzeitig an und blinkten rot, weiss und blau.
Die Lichter flackerten, erloschen. "Hol ihn dir, Jones!"
kreuzförmig. Dunkelheit. "Rein!Sauber Mach schon,
Jones!"
Ralfi Face. Keine Phantasie.
Jones wuchtete seine gepanzerte Masse zur Hälfte über den Rand seines Beckens, so dass ich glaubte, das Metall gebe nach. Molly stach dolchstosshaft mit der Syrette zu und trieb die Nadel zwischen zwei Platten hindurch. Zisch. Lichtmuster zuckten explosiv über den Rahmen und erlöschten.
Als wir gingen, trieb er im dunklen Wasser und wälzte sich träge. Vielleicht träumte er von seinem Krieg im Pazifik, von den geräumten kybernetischen Minen, in deren Elektronik er sich behatsam vorgetastet hatte mit Hilfe des Squid, womit er auch Ralfis Losung aus dem in meinem Kopf versenkten Chip herausgeholt hatte.
"Ich kann mir zwar vorstellen, dass sie sich bei seiner Ausmusterung vertan und ihn mit diesem funktionstüchtigen Gerät aus der Navy entlassen haben, aber wie wird ein kybernetischer Delphin drogensüchtig?"
"Der Krieg machYs", sagte sie. "Waren alle süchtig. Dafür sorgte die Marine. Wie sonst kriegt man sie dazu, für einen zu arbeiten?"
"Ich bin nicht sicher, ob das ein gutes Geschäft ist", sagte der Pirat, der mehr Geld herausholen wollte. "Spekuliert auf einen Kommsat, der nicht im Buch steht . . ."
"Verschwende meine Zeit, und du machst gar kein Geschäft", sagte Molly, die sich über seinen verkratzten Plastikschreibtisch beugte und ihn mit dem Zeigefinger piesackte.
"Vielleicht willste deine Mikrowelle woanders kaufen?<. Er war ein zäher Bursche hinter seiner Mao-Fassade. Vermutlich ein gebürtiger Nighttowner.
Ihre Hand verging sich am Vorderteil seiner Jacke und durchtrennte glatt das Revers, ohne den Stoff auch nur zu kräuseln.
"Also kommen wir ins Geschäft oder nicht?"
"Ja", sagte er und starrte auf sein zerschnittenes Revers, wobei er nur höfliches Interesse an den Tag zu legen hoffte. "Ja."
Während ich die beiden Recorder checkte, die wir gekauft hatten, zog sie aus der reiEverschlussgesicherten Seitentasche ihrer Jacke den Zettel hervor, den ich ihr gegeben hatte. Sie entfaltete das Blatt und las mit stummen Lippenbewegungen. Sie zuckte die Achseln. "Das ist es?"
>>Los!" sagte ich und drückte gleichzeitig die Aufnahmetase der beiden Decks. "Christian White", sagte sie an, "und seine Aryan Reggae Band."
Ralfi treuer Fan seiner aussterbenden Zeit.
Der †bergang in den idiot-Modus ist nie so abrupt wie erwartet. Der Frontraum des Piratensenders war ein schlechtgehendes Reisebüro in einem pastellfarbenen Würfel, der einen Schreibtisch, drei Stühle und ein verblaGtes Poster einer Schweizer Orbitalstation aufwies. Ein Vogelpaar mit braunem Glaskörper und dünnen Beinen trank monoton aus einer Wasserschale aus Styropor auf einem Sims bei Mollys Schulter. Während ich auf den Modus umstellte, beschleunigten sie allmählich, bis die schillernden Haubenfedern massive Farbbögen wurden. Die LED-Sekundenanzeige auf der Plastikuhr an der Wand wurde zu sinnlos pulsierenden Gittern, und Molly und der Knabe mit dem Mao-Gesicht wurden verschwommen, wobei ihre Arme gelegentlich insektenhaft in schematischen Gesten zuckten. Und dann verblaBte alles zu kaltem, statischem Grau und einem endlosen Lautgedicht in künstlicher Sprache.
Da hockte ich und leierte drei Stunden das geklaute Programm des toten Ralfi herunter. Der schattige Promenadenweg zieht sich über vierzig Kilometer von einem Ende zum andern. Verschachtelte Fuller-Kuppeln überdachen die einstige Vorstadtstrasse. Werden an einem klaren Tag die Lichtbögen abgeschaltet, dann drjngt trübes Tageslicht durch den Graufilter des vielschichtigen Acryls, was insgesamt an die Kerker von Piranesi erinnert. Die drei südlichen Kilometer überspannen Nighttown. Nighttown zahlt keine Steuern, keine Abgaben. Das Neonlicht ist tot, und die geodätischen Kuppeln sind im Laufe der Jahrzehnte durch die Kochstellen verrusst. Wem fallen in der fast völligen Dunkelheit des Nighttown- Mittags schon ein paar Dutzend wilder Kinder auf, die durch die Speicher irren?
Wir stiegen seit zwei Stunden über Betontreppen und Stahlleitern mit perforierten Trittflächen an verlassenen Gerüsten und staubbedecktem Werkzeug vorbei. Losmarschiert waren wir von einem zweckentfremdeten Werkstatthof, der vollgeschlichtet war mit dreieckigen Dachsegmenten. Alles dort war überzogen mit der einheitlichen Graffiti- Schicht aus der Sprühdose: Bandennamen, Initialen, Daten, die bis zur Jahrhundertwende zurückreichten. Das Graffiti folgte uns nach oben und wurde dann allmählich spärlicher, bis nur mehr ein einziger Begriff in loser Folge auftauchte: LO TEK. In zerlaufenen schwarzen GroBbuchstaben.
"Wer ist Lo Tek?"
>>Nicht wir, Boss." Sie erklomm eine wacklige Aluminiumleiter und verschwand in einem Loch in einer gewellten Plastikabdeckung. "Low Tech." Das Plastik dämpfte ihre Stimme. Ich rieb mir das schmerzende Handgelenk und folgte ihr. "Die Lo Teks, die würden deine SchieGnummer für dekadent halten."
Eine Stunde später zog ich mich durch ein weiteres Loch, das diesmal schlampig in eine durchhängende Sperrholztafel gesägt war, und traf meinen ersten Lo Tek. "Alles okay", sagte Molly und tippte mir auf die Schulter. "Es ist nur Dog. Hallo, Dog." Im schmalen Lichtkegel ihrer Taschenlampe musterte er uns mit einem Auge, wobei er langsam ein dickes, graues Stück Zunge herausstreckte und sich über die monströsen Eckzähne leckte. Ich fragte mich, wie sie Zahnbett-Implantate vom Dobermann-Gebiss als Low Tech abtun konnten. Immunsuppressiva wachsen nicht unbedingt auf Bäumen.
"Moll." Das vergrösserte Gebiss behinderte seine Sprache. Ein Speichelfaden hing von der verzerrten Unterlippe. "Hörte euch kommen. Lang schon kommen." Er hätte fünfzehn sein können, aber die Reisszähne und ein buntes Mosaik von Narben vereinigten sich mit der klaffenden Augenhöhle zu einer total bestialischen Fratze. Es hatte viel Zeit und eine Art von Kreativität gefordert, um ein solches Gesicht zu schneidern und seine Haltung verriet mir, dass er gern hinter dieser Maske lebte. Er hatte eine abgetragene Jeans an, die schwarz vor Dreck war und speckige Nähte hatte. Brust und Füsse waren bloss. Was er nun mit seinem Mund anstellte, erinnerte entfernt an ein Grinsen. "Es folgt euch jemand. " Weit weg in Nighttown drunten pries ein Wasserverkäufer seine Dienste an.
"Fäden wackeln, Dog?" Sie schwenkte die Taschen lampe zur Seite, und ich sah dünne Fäden durch Ringbolzen laufen und am Rand verschwinden.
"Mach das ScheiBlicht aus!"
Sie knipste es aus.
>>Wie kommtÕs, dass der, der euch folgt, kein Licht hat?"
"Braucht keins. Er bedeutet ikrger, Dog. Wenn deine Aufpasser ihm in die Arme laufen, dann kriegst du sie als handliche Einzelteile zurück."
"Ein Freund, Moll?" Er klang nervös, und ich hörte ihn auf dem abgenutzten Holz hin und her treten.
"Nein. Aber er gehört mir. Und der da", und dabei tippte sie mir auf die Schulter, "das istÕn Freund. Alles klar?"
"Sicher", sagte er ohne grosse Begeisterung und schlurfte zum Rand der Plattform, wo die Ringbolzen waren. Er begann an den straff gespannten Fäden zu rupfen und eine Art Meldung zu übertragen.
Nighttown lag unter uns ausgebreitet wie eine Spielzeugstadt für Ratten; aus winzigen Fenstern leuchtete Kerzenschein, und nur an wenigen Plätzen brannten gleissende Batterie- und Karbidlampen. Ich stellte mir vor, wie die alten Männer bei ihrem endlosen Dominospiel sassen, beträufelt von den warmen, dicken Wassertropfen, die von der Wäsche fielen, die an Stangen zwischen den Sperrholzhütten aufgehängt war. Dann versuchte ich mir vorzustellen, wie er in seinen Plastikbadeschuhen und dem häBlichen Touristenhemd langsam, aber sicher heraufstieg. Wie fand er unsre Spur?
>>Gut", sagte Molly. "Er riecht uns."
"Rauchen?" Dog zog ein zerknüllte Päckchen aus der Tasche und fischte eine plattgedrückte Zigarette heraus. Während er mir mit einem Zündholzschächtelchen Feuer gab, konnte ich den Namen der Marke lesen. Yiheyuan Filter. Beijing Cigarette Factory. Ich folgerte, dass die Lo Teks Schwarzhändler waren. Dog und Molly diskutierten wieder; offenbar drehte es sich um Mollys Wunsch, eine gewisse Einrichtung der Lo Teks benutzen zu dürfen.
"Ich hab dir schon viele Gefallen getan, Mann. Ich will das Parkett. Und die Musik."
"Du bist kein Lo Tek ..."
So ging das fast einen Kilometer, während Dog uns über schwankende Laufplanken und Strickleitern führte. Die Lo Teks kleben ihre Netze und verwinkelten Behausungen mit dicken Expoxidbatzen an die Struktur der Stadt und schlafen in Hängematten über dem Abgrund. Ihr Lebensraum ist dermassen reduziert, dass stellenweise nicht viel mehr als in geodätische Pfeiler gehauene Griff- und Trittmulden für Hände und Füsse vorzufinden sind. Vom Killerparkett redete Molly. Als ich in meinen neuen Eddie Bax-Schuhen hinter ihr hereilte und auf blankem Metall und feuchtem Holz ausglitt, fragte ich mich, was am Killerparkett tödlicher als im Rest ihres Territoriums sein könnte. Zugleich spürte ich, dass Dogs Einwände zum Ritual gehörten und sie längst damit rechnete, zu kriegen, was sie wollte.
Irgendwo unter uns kreiste Jones in seinem Becken und bekam das erste flaue Gefahl nach dem abklingenden Junk. Die Polizei nervte die Stammkunden des Drome mit Fragen über Ralfi. Was machte er? Mit wem war er zusammen unmittelbar vor Verlassen des Lokals? Und der Yakuza spukte durch die Datenbanken der Stadt und jagte in Nummernkonten, Sicherheitentransaktionen und Stromrechnungen Spuren von mir nach. Wir sind eine Datenwirtschaft. Das lernt man schon in der Schule. Was man nicht lernt, ist, dass man, wenn man lebt, sich bewegt und aktiv ist, immer und überall Spuren hinterläBt, Bruchstücke, scheinbar bedeutungslose persönliche Datensplitter. Splitter, die wiederauffindbar und konkretisierbar sind ...
Aber mittlerweile hätte der Pirat unsre aufbereitete Nachricht im Kasten zur Ubertragung auf den Kommsat des Yakuza. Eine simple Nachricht: Pfeift eure Hunde zurück, oder wir machen euer Programm publik.
Das Programm. Ich hatte keine Ahnung, was es enthielt. Weiss es jetzt noch nicht. Ich leiere das Ding ohne jedes Verständnis runter. Es waren vermutlich Forschungsdaten, da der Yakuza forgeschrittenen Techniken der Industriespionage verfallen ist. Ein edles Geschäft, wenn man Ono-Sendai beklaut und die Daten bis zur Zahlung eines Lösegelds unter Verschluss hält, indem man androht, die Daten bekannt zu machen, um damit der Forschung des Konglomerats den Biss zu nehmen.
Aber warum lief diese Nummer nicht? Wären sie nicht besser dran, wenn sie Ono-Sendai was zurückverkaufen könnten, besser dran als mit irgendÕnem toten Johnny von der Memory Lane? Ihr Programm war unterwegs zu einer Adresse in Sydney, einem Laden, der die Post seiner Kunden aufbewahrte, ohne Fragen zu stellen, sobald man eine kleine Anzahlung leistete. Viertklassige Post. Ich hatte die andere Kopie gröBtenteils gelöscht und in die entstandene Lücke unsre Nachricht gesetzt, wobei ich vom Programm gerade so viel übrigliess, dass es als solches zu identifizieren war.
Mein Handgelenk tat weh. Ich wollte anhalten, mich hinlegen und schlafen. Ich wusste, dass ich bald den Halt verlieren und abstürzen würde, wusste, dass die flotten schwarzen Schuhe, die ich mir für meinen Abend als Eddie Bax gekauft hatte, abgleiten und mich hinunter in die Nighttown befördern würden. Aber da drängte er sich mir auf wie ein billiges religiöses Hologramm; der vergrösserte Chip auf seiner Hawaihemdbrust erinnerte an ein Auflklärungsfoto irgendeines todgeweihten Stadtkerns.
So folgte ich also Dog und Molly durch den Lo TekHimmel, der provisorisch aus Unrat gebaut war, den man nicht mal mehr in Nighttown haben wollte.
Das Killerparkett hatte acht Meter Seitenlänge. Ein Riese hatte es über einem Schrottplatz aus Drahtseilen geflochten und straff gespannt. Es quietschte beim Bewegen, und es bewegte sich ständig und wippte auf und ab, während die Lo Teks sich auf der Holztribüne ringsam versammelten. Das Holz war grau vor Alter, glänzte vom vielen Begehen silbern und war über und über mit eingeritzten Initialen, Drohparolen und Liebesschwüren bedeckt. Die Holztribüne war an eigenen Drahtseilen aufgehängt, die sich ausserhalb des grellen Lichtkegels von zwei altertümlichen Flutlichtstrahlern über dem Parkett in der Dunkelheit verloren.
Ein Mädchen mit Zähnen wie Dog landete auf allen vieren auf dem Parkett. Die Brüste waren mit indigoblauen Spiralen tätowiert. Dann war das Mädchen auf der andern Seite des Parketts und raufte kichernd mit einem Jungen, der eine dunkle Flüssigkeit aus einer Literflasche trank.
Lo Tek-Mode, das waren Narben und Tätowierungen. Und Zähne. Dass sie Strom anzapften, um das Killerparkett zu beleuchten, schien eine Ausnahme ihrer allgemeinen Aesthetikauffassung zu sein, ein Kompromiss - zugunsten des Ritus, des Sports, der Kunst? Ich wusste es nicht, bemerkte aber, dass das Killerparkett etwas Besonderes darstellte. Es erweckte den Eindruck, über Generationen hinweg zusammengefügt worden zu sein. Ich hielt die nutzlose Knarre unter meiner Jacke. Das harte Metall, der Griff wirkten beruhigend, auch wenn ich keine Patronen mehr hatte. Und dabei erkannte ich, dass ich keinerlei Ahnung hatte, was eigentlich passieren würde oder passieren sollte. Und das lag in der Natur meines Spiels, denn ich war im Leben meist blinder Empfänger des Wissens andrer Leute, das schliesslich wieder abgerufen wurde, wobei ich in synthetischer Sprache aufsagte, was ich nicht verstand. Ein recht technischer Knabe. Klar.
Und dann fiel mir auf, wie leise die Lo Teks geworden waren.
Da stand er am Rande des Lichtkegels und betrachtete das Killerparkett und die Tribüne der stillen Lo Teks mit der Gelassenheit eines Touristen. Als unsre Blicke sich zum ersten Mal begegneten und wir einander wiedererkannten, wurde in mir die Erinnerung wach an Paris und die lange Fahrt im elektrischen Mercedes durch den Regen zur Notre Dame; an mobile Glashäuser, japanische Gesichter hinter den Scheiben und aberhundert Nikons, die in blindem Phototropismus als gläsern-stählerne Blumen aufragten. Hinter seinen Augen, die mich fixierten, surrten die gleichen Irisblenden.
Ich schaute mich nach Molly Millions um, aber sie war verschwunden.
Die Lo Teks teilten sich und liessen ihn auf die Tribüne. Er verbeugte sich lächelnd, stieg geschmeidig aus seinen Sandalen, die er fein säuberlich nebeneinander hinstellte und zurückliess, und trat hinunter aufs Killerparkett. Er näherte sich mir über das schwankende Alteisen-Trampolin, lässig wie ein Tourist über den Synthetic-Belag irgendeines anonymen Hotels wandelt.
Molly landete auf dem Parkett und machte eine Bewegung.
Das Parkett dröhnte.
Es war mit Mikros und Verstärkern bestockt; Tonabnehmer steckten auf den vier fetten Spiralfedern an den Ecken, und Kontaktmikros hafteten an beliebigen Stellen an rostigen Maschinenteilen. Irgendwo hatten die Lo Teks einen Verstärker samt Synthesizer, und mittlerweile entdeckte ich die Umrisse von Lautsprechern droben hinter dem gleissenden, unbarmherzigen Flutlicht.
Ein elektronischer Schlagzeugbeat setzte ein, hämmernd wie ein Herz, gleichmäGig wie ein Metronom.
Sie hatte ihre Lederjacke und Stiefel ausgezogen; ihr - T-Shirt war ärmellos; schwache Spuren von Chiba City-Elektronik liefen an ihren dünnen Armen entlang. Ihre Lederjeans glänzte im Flutlicht. Sie fing zu tanzen an.
Sie beugte, mit weissen Füssen auf einem plattgewalzten Benzinkanister stehend, die Knie, und das Killerparkett begann sich darauflhin zu heben und zu senken. Der dabei entstehende Lärm glich einem Weltuntergang, hörte sich an, als würden die Trosse, die das Firmament tragen, reissen, und durch den Himmel schnellen.
Er liess sich einige Momente lang schaukeln, und dann bewegte er sich, wobei er die Bewegung des Parketts gewandt einschätzte, als würde er in einem Ziergarten von einem flachen Stein zum nächsten treten.
Er zog mit einer gelassenen, selbstverständlichen Geste die Spitze von seinem Daumen ab und warf sie nach ihr. Im Flutlicht schillerte die lichtbrechende Faser-regenbogengleich. Molly warf sich flach hin, rollte und schnellte empor, als der Molekülstrang vorbeipeitschte, und riss in einer wohl automatischen Abwehrgeste die im Licht blitzenden Stahlklauen hoch.
Der Trommelrhythmus wurde schneller, und die hüpfende Molly hielt den Takt; ihre dunkle Mähne flog wild um die verspiegelten Gläser, der Mund war schmal, die Lippen vor Konzentration verkniffen. Das Killerparkett schaukelte und dröhnte, und die Lo Teks kreischten vor Aufregung.
Er zog die Faser ein bis auf eine Länge von einem Meter, die er als gespenstisch polychrome Scheibe vor sich kreisen liess, wobei er die daumenlose Hand in Höhe des Brustbeins hielt. Ein Schild.
Und Molly schien etwas fallen zu lassen innerlich, und damit fing ihr Veitstanz erst richtig an. Sie hüpfte und drehte sich, schnellte zur Seite und landete mit beiden Füssen auf einem verchromten Motorblock, der direkt mit einer der Spiralfedern verdrahtet war. Ich hielt mir die Ohren zu und ging in die Knie, so schwindelig wurde mir vom Lärm, der mich glauben machte, Parkett und Tribüne stürzten nach unten in die Nighttown, so dass ich uns schon durch die Hütten, die nasse Wäsche brechen und am Pflaster aufschlagen und wie reife Früchte platzen sah. Aber die Drahtseile hielten, und das Killerparkett hob und senkte sich wie ein tobendes Metallmeer. Und Molly tanzte darauf.
Und unmittelbar vor seinem letzten Wurf mit der Faser sah ich zuletzt etwas in seinem Gesicht, einen Ausdruck, der wohl nicht hingehörte. Es war weder Furcht noch Zorn. Ich glaube, es war ungläubiges Staunen, verdatztes Unverständnis, gekoppelt mit der Abscheu eines Astheten vor dem, was er sah, hörte- vor dem, was ihm geschah. Er zog die wirbelnde Faser zurück, so dass die gespenstische Scheibe auf Tellergrösse schrumpfte, machte eine peitschende Bewegung über dem Kopf und riss die Hand nach unten, so dass die Daumenspitze wie etwas Lebendiges auf Molly zuschoss.
Das Parkett riss sie nach unten, so dass der Molekülstrang knapp über ihren Kopf hinwegzuckte. Schon schnellte das Parkett zurück und hob ihn in die Bahn der gestrafften Faser. Sie wäre normalerweise harmlos über seinem Kopf hinwegund ins diamantharte Gehäuse zurückgeglitten. Nun schnitt sie ihm unmittelbar hinter dem Gelenk die Hand ab. Vor ihm tat sich eine Lücke im Parkett auf, durch die er segelte wie ein Taucher mit seltsam betonter Anmut, ein besiegter Kamikaze beim Sturz in die Nighttown. Zum Teil, wie ich glaube, nutzte er diesen Sturz, um sich ein paar Momente würdiger Stille zu erkaufen. Molly hatte ihn mit Kulturschock umgebracht.
Die Lo Teks grölten, aber da stellte jemand die Verstärker ab, und Molly liess das Killerparkett ausschwingen und harrte mit blassem, leerem Gesicht aus, bis das Wippen auflhörte und nur noch ein leises Klirren vom vergewaltigten Metall und das Knirschen von Rost auf Rost zu hören war.
Wir suchten das Parkett nach der abgehackten Hand ab, fanden sie aber nicht. Wir fanden lediglich einen geschwungenen Einschnitt in einem rostigen Stahlteil, wo der Molekülstrang ausgetreten war. Die Schnittkante glänzte wie poliertes Chrom. Wir haben nie erfahren, ob der Yakuza unsre Bedingungen akzeptierte oder unsre Nachricht überhaupt erhielt. So weit ich weiss, wartet ihr Programm immer noch in einem Regal im Hinterzimmer eines Souvenirladens im dritten Stock, Sydney Central-5, auf Eddie Bax. Vermutlich haben sie das Original vor Monaten an Ono-Sendai zurückverkauft. Vielleicht haben sie aber auch die Nachricht des Piraten erhalten, denn noch hat keiner nach mir gesucht, obwohl schon ein Jahr vergangen ist. Wenn sie noch kommen sollten, so haben sie jedenfalls einen langen Aufstieg durch die Dunkelheit vorbei an Dogs Wachen vor sich; ausserdem habe ich neuerdings nicht mehr viel €hnlichkeit mit Eddie Bax. Dafür liess ich - unter örtlicher Betäubung- Molly sorgen. Und meine neuen Zähne sind schon beinahe festgewachsen.
Ich habe beschlossen, hier oben zu bleiben. Als ich unmittelbar vor seiner Ankunft über das Killerparkett schaute, sah ich, wie hohl mein Leben war. Und ich wusste, dass ich nicht länger Gefäss sein wollte. Jetzt steige ich fast allabendlich hinunter und besuche Jones. Wir sind jetzt Partner, Jones und ich. Und Molly Millions auch. Molly erledigt unsre Geschäfte im Drome. Jones ist nach wie vor im Funland, aber hat nun ein grösseres Becken, das wöchentlich mit einem Tankzug frischen Meerwassers aufgefüllt wird. Und er kriegt seinen Stoff, wenn er ihn braucht. Er redet nach wie vor über seine Lichter mit den Kindern, mit mir aber redet er über ein neues Display in einer Kabine, die ich angemietet habe, ein beGres Gerät als seine einstige NavyAusstattung.
Und wir verdienen alle gut dabei. Ich hab nie beGres Geld verdient, denn die Squids von Jones spüren alles auf, das je in mir abgespeichert wo,den ist, und er wirft das auf dem Display in einer mir verständlichen Sprache aus. So lernen wir âne Menge über meine früheren Kunden. Und eines Tages lass ich mir von einem Chirurgen das ganze Silikon aus meinen Mandeln schürfen, damit ich, frei vom Gedächtnis andrer Leute, wieder mit den eigenen Erinnerungen lebe wie jeder andere auch. Aber das dauert noch âne Weile.
Bis dahin kann ichÕs echt aushalten hier oben, hoch oben im Dunkeln, wo ich meine chinesischen Filterzigaretten rauche und dem Kondenswasser lausche, das von den geodätischen Kuppeln tröpfelt. Es ist echt ruhig hier oben - wenn nicht gerade ein Lo Tek-Paar auf dem Killerparkett zu tanzen geruht.
Es ist lehrreich obendrein. Mit Hilfe von Jones, der mir einiges auseinanderklamüsert, werde ich zum technischsten Knaben in der Stadt.
Originaltitel: "Johnny Mnemonic" Copyright 1981 by Omni Publicabon International Ltd.
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