Kelly, Kevin (http://www.absolutvodka.com/kelly/)
In der Bibliothek der Formen
MEIN PFAD zur Literaturabteilung im dritten Stock der Universitätsbibliothek
war verschlungen und führte vorbei an hunderttausenden von
Büchern, die in ihren Regalen schlummerten. Wurden diese
Bücher je gelesen? Ganz hinten in der Bibliothek, wo der
Leser das dunkle fluoreszierende Licht selbst anschalten muß,
suchte ich in dem Bereich, wo die internationale Literatur untergebracht
ist, nach den Werken des argentinischen Autors Jorge Luis Borges.
Ich fand drei Regale voll mit Büchern, die Borges geschrieben
hatte oder die über ihn geschrieben worden waren. Die Erzählungen
von Borges sind berühmt für ihre Surrealität. Sie
sind so perfekt gefälscht, daß sie real erscheinen.
Sie sind schriftliche Hyperrealität. Einige dieser Bücher
waren auf Spanisch, bei einigen handelte es sich um Biographien,
andere bestanden aus Gedichten, wieder andere waren Anthologien
seiner kürzeren Essays, einige waren schließlich Zweitausgaben
anderer Bücher, die sich im selben Regal befanden, oder Kommentare
zu Kommentaren seiner Bücher.
Ich ließ meine Hand über die Bände gleiten, dicke,
dünne, magere, überdimensionierte, alte und neu gebundene.
Aus einer Laune heraus griff ich nach einem abgenutzten Buch mit
einem kastanienbraunen Umschlag. Ich schlug es auf. Es war eine
Anthologie mit Interviews, die Borges in seinen Achtzigern gegeben
hatte. Die Interviews wurden auf Englisch geführt, eine Sprache,
die Borges eleganter handhabte als die meisten Muttersprachler.
Ich erstarrte fast, als ich sah, daß die letzten 24 Seiten
ein Interview mit Borges enthielten, das auf den Texten seines
Buches Labyrinthe basierte, ein Interview, das eigentlich nur
in mein Buch, dieses Buch, Das Ende der Kontrolle, passen würde.
Das Interview begann mit meiner Frage: "Ich las in einem
Ihrer Essays von einem labyrinthischen Irrgarten aus Büchern.
Diese Bibliothek enthielt alle Bücher, die es theoretisch
geben könnte. Natürlich wurde diese Bibliothek als literarische
Metapher geboren, aber eine solche Bibliothek taucht jetzt im
wissenschaftlichen Denken auf. Können Sie mir den Ursprung
dieser Bücherhalle beschreiben?
BORGES: Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt
sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger
Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in
der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt
sind. Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes
Regal faßt 35 Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht
aus 410 Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus
etwa achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe.
ICH: Was steht in den Büchern?
BORGES: Auf jede sinnvolle Zeile einer direkten Aussage in den
Büchern entfallen Legionen sinnloser Kakophonien, sprachlichen
Plunders und inkohärenten Zeugs. Unsinn ist normal in der
Bibliothek. Das Vernünftige (und sogar der einfache und bloße
Zusammenhang) ist eine beinahe wundersame Ausnahme.
ICH: Sie meinen, alle Bücher sind mit zufälligen Buchstaben
angefüllt?
BORGES: Beinahe. Ein Buch, das mein Vater in einem Sechseck auf
dem Rundweg 1594 sah, bestand aus den Buchstaben MCV, in perverser
Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes
(übrigens oft konsultiertes) ist das reinste Buchstabenlabyrinth,
aber auf der vorletzten Seite steht O Zeit deine Pyramiden.
ICH: Es muß aber in der Bibliothek doch einige Bücher
geben, die Sinn machen!
BORGES: Wenige. Vor fünfhundert Jahren stieß der Leiter
eines höhergelegenen Sechsecks auf ein Buch, das ebenso verworren
war wie die anderen, das jedoch fast zwei Seiten mit gleichartigen
Zeilen aufwies. Der Inhalt wurde entschlüsselt: es waren
Begriffe der kombinatorischen Analyse, dargestellt an Beispielen
von Variationen in unendlicher Wiederholung.
ICH. Das ist alles? Zwei Seiten rationaler Vernunft, die in fünfhundertjähriger
Suche gefunden wurden? Was stand auf diesen beiden Seiten?
BORGES: Der Text der beiden Seiten ermöglichte es einem
Bibliothekar, das Fundamentalgesetz der Bibliothek zu entdecken.
Dieser Denker stellte fest, daß sämtliche Bücher,
wie verschieden sie auch sein mögen, aus den gleichen Elementen
bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den sechsundzwanzig
Buchstaben des Alphabets. Auch führte er einen Umstand an,
den alle Reisende bestätigt haben: In der ungeheuer weiträumigen
Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen
beiden unbestreitbaren Prämissen folgerte der Bibliothekar,
daß die Bibliothek total ist und daß ihre Regale alle
irgend möglichen Kombinationen der über zwanzig orthographischen
Zeichen (deren Zahl, obwohl außerordentlich groß,
nicht unendlich ist) verzeichnen.
ICH: In anderen Worten, jedes Buch, das man möglicherweise
schreiben könnte, in jeder Sprache, könnte (theoretisch)
in der Bibliothek gefunden werden. Sie enthält alle Bücher
der Vergangenheit und der Zukunft!
BORGES: Alles: Die nis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft,
die Autobiographien der Erzengel, den gewissenhaften Katalog der
Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis
der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium
des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar
zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahre Geschichte deines
Todes, die Übersetzung jedes Buches in sämtliche Sprachen,
die Interpolationen jedes Buches in allen anderen Büchern.
ICH: Man würde demnach vermuten, daß die Bibliothek
über einwandfreie Bücher verfügt - Bücher
in unvorstellbar schönem Stil und mit durchdringenden Einsichten
- Bücher mit besserer Literatur, als sie von irgendwem bis
heute geschrieben wurde.
BORGES: Es genügt, daß ein Buch möglich ist,
um in der Bibliothek zu stehen. In irgendeinem Regal irgendeines
Sechsecks muß es ein Buch geben, das die Formel und das
perfekte Kompendium aller anderen enthält. Ich bete zu den
unbekannten Göttern, daß ein Mensch - nur einer, selbst
wenn es tausend Jahre her sein sollte! - es untersucht und gelesen
hat.
Borges fuhr dann fort, in großer Ausführlichkeit von
einer blasphemischen Sekte von Bibliothekaren zu berichten, die
glaubten, es sei außerordentlich wichtig, überflüssige
Bücher auszumerzen: "Sie brachen in die Sechsecke ein
und zeigten Beglaubigungsschreiben, die nicht alle gefälscht
waren, blätterten mit Mißbehagen in einem Buch und
verdammten ganze Regale."
Er bemerkte die Neugier in meinen Augen und sagte: "Diejenigen,
die die Zerstörung der `Schätze' durch den Wahnsinn
bedauerten, bedachten zwei wichtige Tatsachen nicht. Die eine:
Die Bibliothek ist so gewaltig an Umfang, daß jede Verkleinerung
von Menschenhand unendlich gering ist. Die andere: Jedes Exemplar
ist zwar einzigartig, unersetzlich, aber da die Bibliothek total
ist, gibt es immer mehrere Hunderttausende nicht ganz perfekter
Faksimiles: Werke, die nur in einem Komma oder einem Buchstaben
voneinander abweichen."
ICH: Aber wie könnte man den Unterschied zwischen dem Realen
und dem beinahe Realen feststellen? Eine solche Nähe bedeutet,
daß nicht nur das Buch, das ich in meiner Hand halte, in
der Bibliothek existiert, sondern auch ein ähnliches, das
sich nur durch ein verändertes Wort in einem vorangegangenen
Satz unterscheidet. Vielleicht steht in dem verwandten Buch: "Jedes
Exemplar ist nicht einzigartig und unersetzlich." Wie kann
man je wissen, ob man das Buch gefunden hat, nach dem man suchte?
Darauf erhielt ich keine Antwort. Als ich aufsah, bemerkte ich,
daß ich von staubigen Regalen in einem schaurig beleuchteten
sechseckigen Raum umgeben war. Durch eine phantastische Logik
stand ich mitten in Borges Bibliothek. Hier waren zwanzig Regale
und im Hintergrund zwischen den niedrigen Geländern Schichten
über Schichten unterer und oberer Etagen sichtbar, sowie
das Labyrinth der Korridore, die von Bücher gesäumt
waren.
Borges Bibliothek war ebenso fabelhaft wie verführerisch.
Zwei Jahre lang hatte ich an dem Buch gearbeitet, das Sie jetzt
in Händen halten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Abgabefrist
bereits um ein Jahr überschritten. Ich konnte es mir nicht
leisten, es zu beenden, und ich konnte es mir nicht leisten, es
nicht zu beenden. Eine großartige Lösung meines Dilemmas
lag irgendwo in dieser Bibliothek aller möglichen Bücher.
Ich würde solange Borges Bibliothek durchsuchen, bis ich
in irgendeinem Regal das beste aller möglichen Bücher,
das ich schreiben konnte, finden würde, eines mit dem Titel
Das Ende der Kontrolle. Es würde ein Buch sein, das schon
geschrieben, herausgegeben und anerkannt war. Ich könnte
mir ein Jahr quälender Arbeit ersparen, einer Arbeit, von
der ich nicht einmal wußte, ob ich ihr gewachsen war. Auf
jeden Fall schien es mir den Versuch wert, nach ihm zu suchen.
Also machte ich mich auf den Weg durch die endlosen Flure aus
Sechsecken, die mit Büchern angefüllt waren.
Nachdem ich das fünfte Sechseck durchschritten hatte, hielt
ich inne. Aus einer Laune streckte ich meine Hand nach einem Buch
in einem harten grünen Einband aus und zog es aus dem vollgestopften
obersten Regal. In seinem Inneren herrschte das größte
Chaos.
Ebenso im nächsten Buch, und im übernächsten.
Ich floh aus dem Sechseck und marschierte schleunigst etwa eine
halbe Meile weit durch identische Korridore mit Sechsecken, bis
ich wieder halt machte und unbeabsichtigt ein Buch aus einem in
der Nähe stehenden Regal rupfte. Das Buch war mit demselben
Geschwafel verpestet. Ich überprüfte die gesamte Reihe
und fand überall denselben Mist. Ich untersuchte mehrere
andere Stellen des Sechsecks und konnte auch dort keine Besserung
erkennen. Für einige weitere Stunden marschierte ich in verschiedene
Richtungen, überprüfte Hunderte von Büchern, einige
aus den untersten Regalen zu meinen Füßen und einige,
die fast an der Decke thronten, aber ausnahmslos enthielten sie
denselben obskuren Müll. Es schien Milliarden von Büchern
mit Blödsinn zu geben. Ein Buch nur aus den Buchstaben MCV,
wie Borges Vater es gefunden hatte, wäre schon eine erfreuliche
Überraschung gewesen.
Dennoch blieb die Versuchung bestehen. Ich nehme an, ich könnte
Tage oder gar Wochen damit zubringen, nach dem vollendeten Buch
Das Ende der Kontrolle von Kevin Kelly zu suchen - und das Risiko
würde sich lohnen. Vielleicht würde ich sogar eine bessere
Fassung von Kevin Kellys Das Ende der Kontrolle finden, als ich
sie selbst schreiben könnte. Und ich wäre dankbar für
das Jahr, das ich mit der Jagd danach zugebracht hätte.
Um auszuruhen, hielt ich auf dem kleinen Treppenabsatz einer
Wendeltreppe an, die sich zwischen den Etagen emporwand. Ich dachte
über die Form der Bibliothek nach. Von der Stelle aus, an
der ich saß, konnte ich durch den Entlüftungsschacht
neun Stockwwerke nach oben und neun nach unten überblicken
und etwa eine Meile in die sechs Richtungen der wabenförmigen
Ebenen. Wenn diese Bibliothek alle möglichen Bücher
enthielt, so gingen meine Überlegungen weiter, dann würden
alle Bände, die den Regeln der Grammatik folgten (die einzig
interessanten), einen so winzigen Bruchteil der Gesamtheit der
Bücher ausmachen, daß es, sollte ich mit meiner zufälligen
Suche tatsächlich auf ein solches stoßen, an ein Wunder
grenzen würde. Fünfhundert Jahre schienen ungefähr
die richtige Zeitspanne zu sein, um zwei vernünftige Seiten
zu finden - zwei vernünftige Seiten, gleichgültig welche.
Ein lesbares Buch zu finden, würde bei viel Glück mehrere
Jahrtausende brauchen.
Ich entschied mich für einen anderen Weg.
Die Anzahl der Bücher pro Regal war immer gleich. Die Anzahl
der Regale pro Sechseck war immer gleich. Alle Sechsecke waren
gleich, beleuchtet von einer pampelmusengroßen Glühbirne,
durchzogen von Gängen, mit je zwei Schranktüren und
einem Spiegel. Die Bibliothek hatte eine Ordnung.
Wenn die Bibliothek eine Ordnung hatte, hieß das (sehr
wahrscheinlich), daß die Bücher, die sie enthielt,
ebenfalls einer Ordnung folgten. Wenn die Bände so einsortiert
wären, daß Bücher, die sich nur gering voneinander
unterschieden, nahe beieinander, und Bücher, die sich stark
voneinander unterschieden, weit auseinander standen, dann würde
mich diese Organisation auf einen Weg führen, um in dieser
Bibliothek aller möglichen Bücher irgendwo relativ schnell
ein lesbares Buch zu finden. War die Unermeßlichkeit dieser
Bibliothek so organisiert, bestand sogar die Möglichkeit,
daß ich eine fertiggestellte Ausgabe von Das Ende der Kontrolle
in die Hände bekam, ein Buch, dessen Titelseite meinen Namen
tragen würde, das ich aber nicht würde schreiben müssen.
Ich machte mich auf den kürzesten Weg zum Erfolg, indem
ich ein Buch aus dem nächstgelegenen Stapel wählte.
Zehn Minuten verbrachte ich damit, den darin enthaltenen Unsinn
zu studieren. Ich schritt ein paar hundert Meter weiter, bis zum
siebtnächsten Sechseck und griff mir ein anderes Buch. Dann
tat ich dasselbe in jeder der sechs strahlenförmig wegführenden
Richtungen. Ich überflog die sechs neuen Texte und wählte
dann denjenigen aus, der im Vergleich zum ersten am meisten "Sinn"
enthielt. In einem fand ich eine Folge aus drei sinnvollen Worten:
"oder Sumpf und". Dann wiederholte ich das Suchprinzip,
indem ich den "Sumpf"-Band zur Vergleichsgrundlage in
den sechs von ihm ausgehenden Richtungen machte. Nach mehreren
Wiederholungen spürte ich ein Buch auf, dessen turbulente
Seiten zwei satzähnliche Sequenzen enthielten. Es wurde wärmer.
Nach vielen Wiederholungen dieses Rituals fand ich ein Buch mit
vier englischen Sätzen, die zwischen dem Schutt durcheinandergeworfener
Buchstaben verborgen waren.
Schnell lernte ich, ausgehend vom letzten "besten"
Buch, sehr weit zu suchen - ungefähr 200 Sechsecke in jede
Richtung -, um die Bibliothek schneller zu erkunden. In diesem
Rhythmus machte ich Fortschritte, bis ich Bücher mit vielen
englischen Sätzen fand, obwohl die Satzteile über mehrere
Seiten verstreut waren.
Aus Stunden wurden Tage. Das topologische Muster "guter"
Bücher erzeugte ein Bild in meinem Kopf. Jedes grammatikalisch
vollständige Buch der Bibliothek befand sich in einem verborgenen
Epizentrum. Im Zentrum befand sich das Buch. In seiner unmittelbaren
Nähe befanden sich Regale mit ähnlichen Faksimiles des
Buches; jedes Faksimile enthielt bloß eine Veränderung
der Interpunktion - ein zusätzliches Komma, ein fehlender
Punkt: Diese Bücher waren umringt von Regalen mit Fälschungen,
die schlechter waren und ein oder zwei Wortveränderungen
enthielten. Um diesen zweiten Ring lag ein weiterer breiter Ring
von Büchern, die sich in ganzen Sätzen unterschieden,
von denen die meisten bis zu unlogischen Aussagen verkommen waren.
Ich stellte mir die grammatischen Ringe als eine Karte mit Höhenlinien
vor, wie sie um einen Berg herum eingezeichnet sind. Die Karte
stellte eine Geographie der Kohärenz dar. Ein einziges himmlisches,
lesbares Buch ruhte auf der Spitze eines Berges; unterhalb von
ihm lagen immer größere Massen minderwertiger Bücher.
Je tiefer die Bücher standen, desto minderwertiger waren
sie auch, und desto größer war der Umfang ihrer Masse.
Das gesamte Gebirge von "beinahe"-Büchern erhob
sich auf einer ungeheuren Ebene undifferenzierten Blödsinns.
Ein Buch zu finden, hieß also den Gipfel der Ordnung zu
erklimmen. Solange ich sicher sein konnte, immer aufwärts
zu gehen - immer in Richtung der Bücher, die mehr Sinn enthielten
-, würde ich unweigerlich auf dem Gipfel eines lesbaren Buches
ankommen. So lange ich mich durch die Bibliothek quer zu den Höhenlinien
der sich ständig verbessernden Grammatik bewegte, würde
ich unweigerlich an einem Sechseck ankommen, das ein grammatisch
vollständiges Buch beherbergte - den Gipfel.
Nach mehreren Tagen der Anwendung dessen, was ich die `Methode'
zu nennen begonnen hatte, fand ich ein Buch. Ein solches Buch
hätte mit dem ziellosen Umherstreifen in der Art, wie es
die zwei Seiten von Borges Vater zu Tage gefördert hatte,
niemals gefunden werden können. Nur die `Methode' konnte
mich zu diesem Zentrum der Kohärenz führen. Ich rechtfertigte
meine Zeitinvestition damit, daß ich mich daran erinnerte,
daß ich mittels der Methode mehr gefunden hatte als Generationen
von Bibliothekaren mit ihren unorganisierten Streifzügen.
Wie es die Methode vorhergesagt hatte, war das Buch, das ich
fand (mit dem Titel Hadal) umgeben von breiten konzentrischen
Ringen ähnlicher Pseudobücher. Aber der Text selbst,
obwohl grammatisch korrekt, war enttäuschend kühl, flach,
charakterlos. Die interessantesten Teile lasen sich wie sehr schlechte
Lyrik. Es enthielt nur eine einzige Zeile, die mit bemerkenswerter
Intelligenz glänzte und die ich mir merken konnte: "Die
Gegenwart liegt für uns im Verborgenen."
Wie auch immer, nie fand ich eine Ausgabe von Das Ende der Kontrolle.
Und ich fand auch kein Buch, für das ich einen Abend geopfert
hätte. Ich erkenne jetzt, daß es selbst mit der `Methode'
Jahre gedauert haben würde. Statt dessen verließ ich
Borges Bibliothek über die Universitätsbibliothek und
ging nach Hause, um Das Ende der Kontrolle zu Ende zu bringen,
indem ich es selber schrieb.
Die `Methode' reizte meine Neugier und lenkte mich vom Schreiben
ab. Ob sie unter Reisenden und Bibliothekaren wohl weitverbreitet
war ? Ich war darauf gefaßt, daß andere sie wahrscheinlich
vor mir entdeckt hatten. Wieder in der (endlichen und katalogisierten)
Universitätsbibliothek suchte ich nach einem Buch, das mir
eine Antwort darauf geben sollte. Ich sprang von Index zu Fußnote
und von Fußnote zu Buch und landete weit entfernt von dem
Ort, an dem ich begonnen hatte. Was ich fand, erstaunte mich.
Die Wahrheit schien phantastisch: Wissenschaftler glauben, daß
die `Methode' unsere Welt seit unvordenklicher Zeit durchtränkt.
Menschen haben sie nicht erfunden; Gott vielleicht. Die Methode
ist eine Variante dessen, was wir heute Evolution nennen.
Wenn wir diese Analyse akzeptieren können, dann ist es die
`Methode', mit der wir alle erfunden wurden.
Noch erstaunlicher: Ich hatte Borges Bibliothek für den
persönlichen Traum (die virtuelle Realität) eines phantasievollen
Autors gehalten, dennoch las ich mit wachsender Begeisterung,
daß seine Bibliothek real war. Ich glaube, daß der
listige Borges dies die ganze Zeit über wußte; er hatte
seinen Bericht als Fiktion entworfen - denn wer würde ihm
schon geglaubt haben? (Andere behaupten, daß seine Fiktion
eine Form des eifersüchtigen Wachens über seinen Zugang
zu diesem furchteinflößenden Ort war.)
Vor zwei Jahrzehnten entdeckten Nicht-Bibliothekare Borges Bibliothek
in von Menschen hergestellten Siliziumschaltkreisen. Poetische
lassen sich die unzähligen Reihen von Sechsecken und Gängen,
die sich in der Bibliothek stapeln, als Entsprechung zu dem unverständlichen
Mikrolabyrinth kristalliner Drähte und Verbindungen denken,
die auf einen Computerchip aus Silizium zusammengepreßt
sind. Ein Computerchip, der mit der geeigneten Softwarezauberformel
gesegnet ist, erzeugt auf Befehl Borges Bibliothek. Der initiierte
Chip läßt den angeschlossenen Bildschirm den Text irgendeines
Buches aus Borges Bibliothek anzeigen; zuerst einen Text aus Block
1594, den nächsten aus der kaum besuchten Abteilung 2CY.
Buchseiten erscheinen auf dem Bildschirm, eine nach der anderen,
ohne Verzögerung. Um Borges Bibliothek aller möglichen
Bücher zu durchsuchen - vergangener, gegenwärtiger und
zukünftiger - braucht man sich nur hinzusetzen (die moderne
Lösung) und mit der Maus zu klicken.
Weder Modell, Geschwindigkeit, Funktionalität des Designs
noch der geographische Ort, an dem sich der Computer befindet,
spielen auch nur die geringste Rolle beim Generieren eines Zugangs
zu Borges Bibliothek. Das wußte Borges selbst nicht, obwohl
er es zu würdigen gewußt hätte: daß, welche
künstlichen Mittel auch immer eingesetzt werden, um dorthin
zu kommen, alle Reisenden in genau derselben Bibliothek landen.
(Das heißt, alle Bibliotheken, die alle möglichen Bücher
enthalten, sind identisch; es gibt keine Imitationen von Borges
Bibliothek; alle Kopien dieser Bibliothek sind Originale). Die
Konsequenz aus dieser Universalität ist, daß jeder
Computer eine Borges'sche Bibliothek aller möglichen Bücher
erzeugen kann.
DER LEISTUNGSFÄHIGSTE COMPUTER, den es im Jahr 1993 gab,
der Connection Machine 5 (CM5), kann die Borges'sche Bibliothek
der Bücher mühelos erzeugen. Mit dem CM5 lassen sich
aber genauso unermeßliche und mysteriöse Borges'sche
Bibliotheken anderer komplexer Dinge erzeugen, die keine Bücher
sind.
Karl Sims, der für Thinking Machines arbeitet und der Schöpfer
des CM5 ist, hat eine Borges'sche Bibliothek aus Kunstobjekten
und Bildern aufgebaut. Sims schrieb zunächst eine spezielle
Software für den CM5 und konstruierte dann ein Universum
(das andere eine Bibliothek nennen) aller möglichen Bilder.
Derselbe Mechanismus, der ein mögliches Buch erzeugen kann,
ist auch in der Lage, ein mögliches Bild zu erzeugen. In
jenem Fall sind die Erzeugnisse Buchstaben in linearer Abfolge;
in diesem ein Rechteck aus Bildpunkten, die auf einem Bildschirm
dargestellt werden. Sims jagt nach Pixelmustern statt nach Buchstabenmustern.
Ich besuche Sims in seiner abgedunkelten Büronische im Firmensitz
von Thinking Machines in Cambridge, Massachusetts. Zwei übergroße
helle Monitore stehen auf Sims Arbeitstisch. Sein größter
Monitor ist in eine Matrix aus 20 rechteckigen Feldern unterteilt,
vier hoch, fünf quer. Jedes Rechteck ist ein Fenster, das
gerade einen realistisch marmorierten Doughnut zeigt. Alle zwanzig
Bilder unterscheiden sich in der Musterung leicht voneinander.
Sims klickt mit der Maus das Rechteck in der unteren rechten
Ecke an. Augenblicklich erscheinen in allen 20 Rechtecken frisch
marmorierte Doughnuts, jedes neue Bild eine leichte Variante des
zuvor in der unteren rechten Ecke ausgewählten Musters. Indem
Sims eine Folge von Bildern anklickt, kann er durch eine Borges'sche
Bibliothek visueller Muster wandeln und die `Methode' anwenden.
Anstatt körperlich sieben Meter (in viele Richtungen) zu
laufen, um ein gespeichertes Muster zu erreichen, errechnet Sims
Software, daß das Muster logischerweise sieben Meter entfernt
sein würde (seitdem sich herausstellt, daß die Borges'sche
Bibliothek sorgfältig geordnet ist). Dann malt er das neugefundene
Muster auf den Bildschirm. Der CM5 tut dies in Millisekunden und
bildet von der letzten Sektion ausgehend simultan die neuen Muster
in zwanzig verschiedenen Richtungen ab.
Einschränkungen in der Hinsicht, welche Art Bild möglicherweise
aus der Bibliothek auftauchen könnte, gibt es nicht. In echt
Borges'scher Manier enthält dieses totale Universum alle
Schattierungen von rosa, alle Strichformen; es enthält die
Mona Lisa, und alle Mona Lisa-Parodien; jeden Wirbel, die Baupläne
des Pentagons, alle Skizzen von Van Gogh, jedes Einzelbild von
Vom Winde verweht, alle gesprenkelten Muschelschalen. Das ist
allerdings noch Wunschdenken; auf seinen sonderbaren Streifzügen
durch diese Bibliothek erntet Sims hauptsächlich Fenster,
die mit amorphen Klecksen, Streifen und psychedelischen Farbstrudeln
angefüllt sind.
Die `Methode' - als Evolution - hat man sich weniger als Reise
denn als Züchtung vorzustellen. Sims beschreibt die zwanzig
neuen Bilder als zwanzig Kinder eines ursprünglichen Elternteils.
Die zwanzig Bilder unterscheiden sich nicht stärker voneinander,
als es bei Nachkommen der Fall ist. Dann selektiert er den "besten"
Nachkommen, der wiederum sofort zwanzig neue Varianten erzeugt.
Er wählt das beste aus dieser Gruppe, und dieses Beste wird
weitere zwanzig Varianten hervorbringen. Er kann von einem einfachen
Kreis ausgehen und mittels kumulativer Selektion bei einer Kathedrale
landen.
Achtet man darauf, wie Formen erscheinen, sich in Variationen
multiplizieren, selektiert werden, sich in Formen verzweigen,
wieder gesichtet werden und anfangen, sich von Generation zu Generation
zu immer komplizierteren Umrissen zu verschieben, entsteht nicht
nur im Kopf, sondern auch aus dem Bach heraus der Eindruck, daß
Sims die Bilder tatsächlich züchtet. Vollere, wildere
und ästhetisch stärkere Bilder entfalten sich im Verlauf
von Generationen. Sims und seine Computerkollegen nennen das künstliche
Evolution.
Die mathematische Logik des Bilderzüchtens ist von der mathematischen
Logik des Taubenzüchtens nicht zu unterscheiden. Konzeptionell
sind die beiden Prozesse äquivalent. Auch wenn wir es künstliche
Evolution nennen, ist nichts daran mehr oder weniger künstlich
als das Züchten von Dackeln. Beide Methoden sind gleichermaßen
künstlich (im Sinne von Kunst) und natürlich (naturgetreu).
In Sims Universum ist die Evolution der lebendigen Welt entrissen
und in ihrer nackten Form der Mathematik anheimgestellt worden.
Ihrer Hülle aus Gewebe und Haar entkleidet, aus dem feucht-nassen
Fleisch ihres Schoßes entführt und dann in Schaltkreise
eingeblasen, hat sich die vitale Essenz der Evolution von der
Welt des Geborenen in die Welt des Gemachten, von ihrer zuvor
einzigen Sphäre der Kohlenstoffverbindung zu der hergestellten
Siliziumwelt algorithmischer Chips verschoben.
Schockierend ist nicht, daß die Evolution vom Kohlenstoff
auf Silizium übertragen wurde; Silizium und Kohlenstoff sind
eigentlich sehr ähnliche Elemente. Das Schockierende an der
künstlichen Evolution ist, daß sie im Grunde genommen
die Natur des Computers ist.
Innerhalb von zehn Zyklen produziert Sims künstliche Zucht
etwas "Interessantes". Oft reichen nur fünf Sprünge,
um Sims irgendwohin zu bringen, wo er mehr findet als rein chaotische
Farbflecken. Während er sich von Bild zu Bild klickt, redet
Sims wie Borges davon, "durch die Bibliothek zu reisen",
oder "den Raum zu erkunden". Die Bilder existieren "dort
draußen", auch wenn sie vor ihrer Auffindung oder Selektion
nicht in sichtbarer Gestalt auftauchen.
Die elektronische Version von Borges Bibliothek der Bücher
kann auf dieselbe Weise betrachtet werden. Die Buchtexte existieren
abstrakt und unabhängig von einer Form. Jeder Text schläft
an seinem ihm zugewiesenen Ort auf einem virtuellen Regal in der
virtuellen Bibliothek. Wird er ausgewählt, haucht der kabbalistische
Silizium-Chip dem virtuellen Selbst des Buches die Gestalt ein,
um den Text auf dem Bildschirm zum Leben zu erwecken. Ein Zauberer
reist zu einer Stelle im Raum (welcher geordnet ist) und erweckt
genau das Buch, das dort ruhen muß. Zu jeder Koordinate
gehört ein Buch; zu jedem Buch gehört eine Koordinate.
Genau wie für den Reisenden eröffnet jede Sicht viele
neue mögliche Orte für noch mehr Ansichten; in der Bibliothek
bringt eine Koordinate viele verwandte Koordinaten hervor. Ein
eingeweihter Bibliothekar reist durch den Raum in einer Reihe
von Sprüngen; der Weg ist eine Kette von Selektionen.
Folglich sind die sechs vom Original abgeleiteten Texte sechs
Verwandte. Sie gehören zu einer Formfamilie und einem informatorischen
Samen. Auf der Skala der Bibliothek hat ihre Variation den Stellenwert
von Geschwistern. Da sie Verwandte sind, die sich einer Folgegeneration
verdanken, können sie also Nachfahren genannt werden. Der
einzelne ausgewählte "beste" Nachfahre wird zum
Vorfahre der nächsten Runde; eine seiner Nachfahrenvarianten
wird der Vorfahre der nachfolgenden Generation.
Als ich in Borges Bibliothek war und einem lesbaren Buch nachjagte,
folgte ich einer Fährte, an deren Anfang Geblubber stand.
Aber aus einer anderen Perspektive würde man mich sehen,
wie ich ein Buch voller Unsinn zu einem lebensfähigen Buch
weiterzüchte, gerade so wie jemand eine struppige Wildblüte
durch viele Generationen der Selektion zu einem eleganten Rosenkelch
domestizieren kann.
Karl Sims züchtet auf dem CM5 aus grauem Rauschen jubilierende
Bilder aus dem Pflanzenreich. "Es gibt keine Begrenzung für
das, was der Evolution einfallen kann. Sie kann die Gestaltungsfähigkeiten
des Menschen übersteigen", behauptet er. Er hat sich
einen Weg ausgedacht, um die unermeßliche Bibliothek einzugrenzen,
so daß seine Ausflüge im Bereich aller möglichen
Pflanzenformen blieben. Als er diesen Weg durch seine Welt entwickelte,
kopierte er "Samen" der Formen, die ihn am meisten faszinierten.
Später ließ Sims seine Ernte erneut keimen und machte
aus ihr phantastische dreidimensionale Pflanzenformen, die er
bewegen konnte. Sein zivilisierter Urwald beherbergte unter anderem
einen riesigen sich auseinanderrollenden Farnwedel, spindeldürre
Tannendinger mit einer Weihnachtskugel in der Spitze, Gras mit
Krebszangenblättern und gewundene Eichen. Schließlich
bevölkerten diese so bizarr entwickelten Pflanzen ein von
ihm hergestelltes Video mit dem Titel Panspermia. In diesem Trickfilm
sprossen fremdartig anmutende Bäume und Riesengräser
aus Samen und bedeckten schließlich einen unfruchtbaren
Planeten mit einem außerirdischen Urwald aus verwurzelten
Gebilden. Die entwickelten (jetzt belebten) Pflanzen erzeugten
ihre eigenen Samen, die von der Knollenkanone einer Pflanze ins
All und auf die nächste öde Welt geschossen wurden (da
Reproduktionsverfahren von Panspermia).
Karl Sims ist nicht der einzige Erforscher der Architektur des
Borges'schen Universums (das einige Bibliothek nennen), und er
ist auch nicht der erste. Soweit ich das beurteilen kann, war
der erste Bibliothekar einer synthetischen Borges'schen Welt der
britische Zoologe Richard Dawkins. 1985 erfand Dawkins ein Universum,
dem er den Namen "Land der Biomorphe" gab. Das Land
der Biomorphe ist der Raum möglicher biologischer Formen,
der aus kurzen geraden Linien und Verzweigungen zusammengesetzt
ist. Es war die erste computergenerierte Bibliothek möglicher
Formen, die mit dem Verfahren der Zuchtwahl durchsucht werden
konnte.
Dawkins schrieb "Land der Biomorphe" als Lehrsoftware,
um vorzuführen, wie gestaltete Dinge ohne Gestalter erzeugt
werden können. Er wollte anschaulich zeigen, daß, während
zufällige Selektion und zielloses Umherlaufen niemals zu
einer zusammenhängenden Anordnung führten, die kumulative
Selektion (die `Methode') das schaffte.
Ungeachtet seines Rufs als bedeutender Biologe, hatte Dawkins
Erfahrung im Programmieren von Großrechnern. "Biomorph"
ist ein ziemlich raffiniertes Computerprogramm. Es zeichnet einen
Strich bestimmter Länge, und in einem wachstumsähnlichen
Muster fügt es Äste hinzu, und Zweige zu den Ästen.
Wie sich die Äste verzweigen, wieviele und in welcher Länge
hinzugefügt werden, das alles sind Werte, die von Form zu
Form unabhängig und geringfügig variieren können.
In Dawkins Programm "mutieren" diese Werte außerdem
zufällig. Jede Form, die es zeichnet, unterscheidet sich
durch eine Mutation neun möglicher Variablen.
Dawkins hoffte, eine Bibliothek von Baumformen mittels künstlicher
Selektion und Züchtung zu durchqueren. Eine Form tauchte
in "Land der Biomorphe" als eine punktförmige Linie
auf. Dawkins Programm generierte acht Nachfahren des Punkts, ähnlich
wie es später Sims Programm tat. Die Punktkinder unterschieden
sich in der Länge, je nachdem welchen Wert die Zufallsmutation
ergab. Der Computer projizierte jeden Nachfahren und die Vorfahren
auf einer Darstellung aus neun Quadraten. In der mittlerweile
bekannten Manier der Zuchtwahl selektierte Dawkins die nach seiner
Vorstellung gefälligste Form und entwickelte eine Erbfolge
immer komplexerer Formvarianten. Ab der siebten Generation entwickelten
die Nachkommen immer filigranere Details.
Das war Dawkins Hoffnung, als er begann, den Code in BASIC zu
schreiben. Wenn er mit dem Programmieren Glück hätte,
würde er ein Universum sich wundervoll vielfältig verzweigender
Bäume erhalten.
An dem Tag, als er es geschafft hatte, das Programm zum Laufen
zu bringen, verbrachte Dawkins eine heitere Stunde mit dem Durchstöbern
der nächstgelegenen Regale der Borges'schen Bibliothek. Indem
er von Mutation zu Mutation voranschritt, fand er unerwartete
Arrangements aus Stielen, Zweigen und Stämmen. Hier gab es
seltsame Bäume, auf die die Natur niemals Anspruch erhoben
hatte. Und Strichzeichnungen von Büschen, Gräsern und
Blumen, die es nie gegeben hatte. Die doppelte Metaphorik von
Evolution und Bibliotheken nachbuchstabierend, schrieb Dawkins
in Der blinde Uhrmacher: "Wenn man im Computer zum ersten
Mal eine neue Kreatur durch künstliche Selektion entwickelt,
so kommt es einem wie ein schöpferischer Vorgang vor. Und
das ist es ja auch. Tatsächlich jedoch findet man die Kreatur
nur, denn sie sitzt, in mathematischem Sinne, bereits an ihrem
eigenen Ort im genetischen Raum des Landes der Biomorphe."
Nach mehreren Stunden bemerkte er, wie er in einen Bereich der
Bibliothek vordrang, wo die Zweigstrukturen der Bäume anfingen,
sich in sich selbst zurückzufalten und Bereiche mit hin-
und herkreuzenden Linien füllten, bis sie zu einer soliden
Massivität auskristallisiert. Die sich zurückbiegenden
Zweige arbeiteten sich an sich selbst heran und formten eher kleine
Körper als Stämme. Weitere Zweige, die immer noch aus
diesen Körpern sprossen, sahen erstaunlicherweise wie Beine
und Flügel aus. Er hatte die Abteilung der Bibliothek betreten,
in der die Insekten wohnten (der Tatsache zum Trotz, daß
er als Gott die Existenz eines solchees Land nicht beabsichtigt
hatte!). Er entdeckte alle möglichen Arten komischer Käfer
und Schmetterlinge.
Dawkins war verblüfft: "Als ich das Programm schrieb,
kam mir niemals der Gedanke, daß es etwas anderes entwickeln
könnte als eine Varietät von baumähnliche Gestalten.
Ich hatte Trauerweiden, Pyramidenpappeln und Libanonzedern erhofft."
Jetzt waren überall Insekten. Dawkins war an diesem Abend
so aufgeregt, daß er nichts essen konnte. Er verbrachte
weitere Stunden damit, erstaunlich komplexe Kreaturen, die wie
Skorpione, Wasserspinnen oder gar Frösche aussahen, zu entdecken.
Später sagte er: "Ich fieberte fast vor Begeisterung.
Ich kann gar nicht beschreiben, welches Triumphgefühl ich
beim Entdecken eines Landes verspürte, das ich angeblich
selbst geschaffen hatte. Nichts in meiner Intuition als Biologe,
nichts in meiner zwanzigjährigen Erfahrung im Programmieren
von Computern, und auch nichts in meinen verrücktesten Träumen
hatte mich auf das vorbereitet, was tatsächlich auf dem Bildschirm
erschien."
In jener Nacht konnte er nicht schlafen. Es drängte ihn
weiter, er mußte sich unbedingt einen Überblick über
die Ausmaße seines Universums verschaffen. Welche weiteren
Überraschungen hielt diese angeblich einfache Welt noch bereit?
Als er endlich gegen Morgen einschlief, schwärmten Bilder
"seiner" Insekten durch seine Träume. In den folgenden
Monaten vagabundierte Dawkins auf der Suche nach nichtpflanzlichen
und abstrakten Formen durch die entferntesten Gefilde des Lands
der Biomorphe. Unter den Dingen, denen er begegnete, befanden
sich "Feenkrabben, Aztekentempel, gotische Kirchenfenster,
Eingeborenenzeichnungen von Känguruhs". Indem Dawkins
jede freie Minute hier und dort nutzte, wandte er schließlich
die Methode der Evolution an, um mehrere Buchstaben des Alphabets
zu lokalisieren. (Diese Buchstaben wurden in die Sichtbarkeit
gezüchtet, nicht gezeichnet.) Sein Ziel war es, die Buchstaben
seines Namens einzufangen, aber nie fand er ein passables D oder
ein vernünftiges K. (An der Wand meines Büros hängt
ein wunderbares Poster der 26 Buchstaben und zehn Ziffern, die
als Schimmer auf den Flügeln lebender Schmetterlinge gefunden
wurden - auch ein wunderschönes D und ein K. Doch obwohl
die Evolution diese Buchstaben hervorgebracht hatte, konnten sie
mittels der 'Methode' nicht gefunden werden. Der Fotograf Kjell
Sandved erzählte mir, daß er mehr als eine Million
Flügel habe betrachten müssen, um die 36 Symbole zusammenzubekommen.)
Dawkins war auf der Suche. Später schrieb er: "Es gibt
Computerspiele auf dem Markt, bei denen der Spieler glaubt, in
einem unterirdischen Labyrinth umherzuirren, das eine bestimmte,
wenn auch komplexe Geographie besitzt, und in welchem er auf Drachen,
Minotauren und andere mythische Gegner trifft. In diesen Spielen
ist die Zahl der Monster relativ klein. Sie sind alle von einem
Menschen programmiert, ebenso die Geographie des Labyrinths. Im
Spiel der Evolution, ob in der Computerversion oder in der Realität,
hat der Spieler (oder Beobachter) dasselbe Gefühl als wandere
er, metaphorisch gesprochen, durch ein Labyrinth sich verzweigender
Gänge, aber die Zahl möglicher Wege ist nahezu unendlich,
und die Monster, auf die man trifft, sind nicht von Menschen gemacht
und nicht vorhersagbar."
Das Wunderlichste daran war, daß die Monster in diesem
Raum nur einmal gesehen wurden und dann verschwunden waren. Die
ersten Versionen von "Land der Biomorphe" hatten noch
keine Funktion, um die Koordinaten jedes Biomorphs abzuspeichern.
Die Umrisse erschienen auf dem Bildschirm, aus ihren Regalen in
der Bibliothek gescheucht, und wenn der Computer ausgeschaltet
wurde, kehrten sie auf ihren mathematischen Platz zurück.
Die Wahrscheinlichkeit, ihnen noch einmal zu begegnen, war unendlich
gering.
Als Dawkins zum ersten Mal im Landstrich der Insekten ankam,
wollte er unbedingt eines davon behalten, um es wiederfinden zu
können. Er druckte ein Bild von ihm aus, und ein Bild aller
28 Vorläuferformen, die er auf dem Weg zu ihm entwickelt
hatte, aber mit seinem ersten Programm konnte er damals die zugrundeliegenden
Zahlenwerte noch nicht festhalten, mit deren Hilfe er die Form
hätte rekonstruieren können. Er wußte, sobald
er den Computer in jener Nacht ausmachte, wären die biomorphen
Insekten verschwunden, bis auf das Fitzelchen ihrer Existenz,
das von ihrem Porträt erhascht worden war. Würde er
je wieder identische Formen entwickeln können? Er drehte
den Saft ab. Zumindest hatte er einen Beweis, daß sie irgendwo
in seiner Bibliothek existierten. Das Wissen, daß sie da
waren, trieb ihn um.
Ungeachtet der Tatsache, daß Dawkins sowohl den Ausgangspunkt
als auch die Serie der 28 "Fossilien" beaß, die
zu dem bestimmten Insekt führten, das er zu rekonstruieren
versuchte, waren die Biomorphe nicht wieder einzufangen. Auch
Karl Sims züchtete einmal auf seinem CM5 ein blendend leuchtendes
Bild aus farbigen, verschlungenen Fäden - das stark an ein
Gemälde von Jackson Pollock erinnerte -, bevor er eine Funktion
für die Sicherung von Koordinaten schrieb; auch er war nicht
mehr in der Lage, das Bild wiederzufinden, obwohl er ein Dia davon
besitzt, das er wie eine Trophäe aufbewahrt.
Der Borges'sche Raum ist riesengroß. In diesem Raum willentlich
einen Punkt erneut zu lokalisieren, ist ebenso schwierig wie eine
Schachpartie identisch nachzuspielen. Ein winziger, kaum merklicher
Fehler bei der Auswahl an irgendeinem Punkt kann dich an ein Kilometer
vom Wunschort entferntes Ziel tragen. Im Biomorph-Universum garantieren
die Komplexität der Formen, die Komplexität der zu jedem
Moment bestehenden Wahlmöglichkeiten und die Feinheit der
Unterschiede, daß jede entwickelte Form wahrscheinlich zum
ersten und gleichzeitig zum letzten Mal auftaucht. Vielleicht
gibt es in der Bibliothek von Borges ein Buch mit dem Titel Labyrinthe,
in dem sich folgende wunderliche Geschichte findet (die in dem
Buch Labyrinthe, das ich im Regal der Universitätsbibliothek
fand, nicht enthalten ist). In diesem Buch erzählt Jorge
Luis Borges, wie sein Vater, der ein Reisender im Universum aller
möglichen Bücher war, einst inmitten dieser verwirrenden
Unermeßlichkeit auf ein vernünftiges Buch stieß.
Alle 410 Seiten des Bandes, die Inhaltsangabe eingeschlossen,
waren voll mit Palindromen, die jeweils aus zwei Sätzen bestanden.
Die ersten 33 Palindrome waren sowohl rätselhaft als auch
tiefsinnig. Weiter kam der Vater nicht mit der Lektüre, denn
ein plötzlich ausbrechendes Feuer im Keller erzwang die Evakuierung
der Bibliothekare, die in diesem Bereich arbeiteten. Aufgrund
der dadurch ausgelösten Panik vergaß der Vater den
Standort des Bandes. Aus Scham darüber wurde die Existenz
des Palindrombuches nie außerhalb der Mauern der Bibliothek
erwähnt. Über acht Generationen hinweg trifft sich eine
halbwegs geheime Verbindung ehemaliger Bibliothekare regelmäßig,
um methodisch die Schritte des alten Wanderers nachzuzeichnen,
um dieses Buch in der riesigen Bibliothek wiederentdecken zu können.
Es besteht kaum Hoffnung, daß sie je ihren Heiligen Gral
finden werden.
Um zu zeigen wie weitläufig solche Borges'schen Räume
sind, stiftete Dawkins einen Preis für denjenigen, dem es
gelänge, das Bild eines Blütenkelches nachzuzüchten
(oder auf gut Glück zu finden!), auf den Dawkins zufällig
auf einem seiner Streifzüge in "Land der Biomorphe"
gestoßen war. Er nannte ihn den Heiligen Gral. Dawkins war
sich sicher, daß er so tief verborgen war, daß er
dem ersten Menschen, der ihm die Gene des Heiligen Grals zeigen
konnte, 1.000 Dollar bot. "Mein eigenes Geld auf Spiel zu
setzen", sagte Dawkins, "war meine Art zu sagen, daß
ihn niemand finden wird." Zu seiner großen Verwunderung
stieß der kalifornische Software-Entwickler Thomas Reed
bereits innerhalb des ersten Jahres des Wettbewerbes auf den Kelch.
Dies ähnelt dem Nachzeichnen der Schritte des älteren
Borges, um den Standort des verlorenen Palindrombuchs zu lokalisieren,
oder dem Kraftakt, Das Ende der Kontrolle in Borges Bibliothek
zu finden.
Das Land der Biomorphe unterstützt jedoch derartige Unternehmungen.
Weil dessen Entstehen Dawkins berufliche Interessen als Biologe
widerspiegelt, ist es neben der Evolution auch auf organischen
Prinzipien aufgebaut. Die sekundäre biologische Natur eines
Biomorphs erlaubte es Reed, den Blütenkelch ausfindig zu
machen.
Dawkins erkannte, daß er, um ein handhabbares biologisches
Universum zu errichten, die Möglichkeiten an Formen auf solche
beschränken mußte, die zumindest etwas biologischen
Sinn ergaben. Andernfalls würde die pure Unermeßlichkeit
aller Formen einen jeder normalen Chance berauben, eine ausreichende
Anzahl von Gestalten zu finden, um damit herumzuspielen - selbst
dann, wenn man die Methode der kumulativen Selektion anwandte.
Immerhin, überlegte er, begrenzt die embryonale Entwicklung
lebender Kreaturen die Möglichkeiten ihrer Mutation. Beispielsweise
sind die meisten Lebewesen um eine Rechts-Links-Achse symmetrisch;
mit der Einführung der Rechts-Links-Symmetrie als einem fundamentalen
Bestandteil jedes Biomorphs konnte Dawkins den Gesamtumfang der
Bibliothek verringern und so das Auffinden eines Biomorphs erleichtern.
Er nannte diese Reduktion eine "erzwungene Embryologie".
Die Aufgabe, die er sich selbst stellte, war der Entwurf einer
restriktiven Embryologie, aber in "biologisch interessanten
Richtungen".
"Schon sehr bald gelangte ich zu der intuitiven Überzeugung,
daß die Embryologie, die ich haben wollte, rekursiv sein
müßte. Meine Intuition gründete sich teilweise
auf der Tatsache, daß die Embryologie im richtigen Leben
als rekursiv gedacht werden kann", erzählte mir Dawkins.
Mit rekursiver Embryologie meinte Dawkins, daß einfache,
immer wiederholte Regeln (solche eingeschlossen, die mit ihren
eigenen Ergebnissen spielen) viel zu der Komplexität der
endgültigen Form beitragen würden. Wird zum Beispiel
die rekursive Regel "lasse eine Einheit wachsen, gable sie
dann in zwei" über mehrere Folgegenerationen eines ursprünglichen
Zweigs angewendet, wird sie nach ungefähr fünf Wiederholungen
ein buschiges vielverzweigtes Etwas hervorbringen.
Zweitens fügte Dawkins die Idee von Gen und Körper
in die Bibliothek ein. Er sah, daß eine Buchstabenreihe
(wie in einem Buch) unmittelbar analog zu den biologischen Genen
ist. (Ein Gen wird auch in der formalen Notierung der Biochemie
als Buchstabenreihe dargestellt.) Die Gene produzieren das Gewebe
des Körpers. "Biologische Gene kontrollieren aber keine
kleinen Fragmente des Körpers", sagt Dawkins. "Das
wäre die Entsprechung zur Kontrolle der Bildpunkte auf dem
Bildschirm. Statt dessen kontrollieren Gene Wachstumsregeln -
embryologische Entwicklungsprozesse - oder in "Land der Biomorphe"
die Algorithmen der Zeichnung." Demnach verhält sich
eine Zahlenreihe oder Text wie ein String von Genen (ein Chromosom),
das eine Formel darstellt, die dann das Bild (den Körper)
aus Bildpunkten zusammensetzt.
Die Konsequenzen dieses indirekten Weges zur Erzeugung von Formen
war, daß fast jeder beliebige Ort in der Bibliothek - das
heißt, beinahe jedes Gen - eine kohärente biologische
Gestalt produzierte. Indem er die Gene Algorithmen statt Pixel
kontrollieren ließ, versah Dawkins sein Universum mit einer
inhärenten Grammatik, die das Auftauchen des gesamten früheren
Blödsinns verhinderte. Auch eine wilde Mutation würde
nicht zu einem flachen grauen Fleck führen. Dieselbe Transformation
könnte auf die Bibliothek von Borges angewendet werden. Anstatt
daß jeder Regalstandort der Bibliothek eine mögliche
Zusammenstellung von Buchstaben repräsentierte, könnte
er eine mögliche Zusammenstellung von Worten oder sogar von
möglichen Sätzen repräsentieren. Dann würde
jedes Buch, das man auswählt, zumindest in die Nähe
der Lesbarkeit gerückt sein. Dieser herausgehobene Raum aus
Wortketten ist viel kleiner als der Raum der Buchstabenketten,
aber auch, wie Dawkins betonte, auf eine interessantere Richtung
beschränkt: es ist wahrscheinlicher, daß man auf etwas
Verständliches stößt.
Dawkins Einführung der Gene, die sich biologisch verhielten
- jede Mutation veränderte auf strukturierte Weise viele
Bildpunkte - ließ nicht nur die Größe der biomorphen
Bibliothek schrumpfen, indem sie diese auf funktionale Formen
eindampfte, sondern bot auch menschlichen Züchtern einen
alternativen Weg bei der Suche nach neuen Formen. Jede geringfügige
Verlagerung im biomorphen Genraum würde sich zu einer spürbaren
und verläßlichen Verlagerung der graphischen Ansicht
verstärken.
Das eröffnete Thomas Reed, freiberuflicher Ritter des Heiligen
Grals, einen zweiten Weg der Züchtung. Reed wandelte wiederholt
Gene einer Elterform ab, während er die sichtbaren Veränderungen
in den Formen, die die Gene hervorbrachten, beobachtete, um die
Weise herauszufinden, wie sich eine Gestalt durch die Abwandlung
einzelner Gene steuern läßt. Auf diese Art konnte er
auf verschiedene biomorphe Formen zusteuern, indem er mit der
Genskala herumspielte. In offensichtlicher Analogie nannte Dawkins
dieses Modul seines Programms "Gentechnologie". Wie
in der wirklichen Welt besitzt sie unheimliche Macht.
Tatsächlich verlor Dawkins seine 1.000 Dollar an den Gen-Ingenieur
des künstlichen Lebens. Thomas Reed verbrachte die Mittagspause
an seinem Arbeitsplatz auf der Jagd nach dem Blütenkelch
in Dawkins Programm. Sechs Monate, nachdem Dawkins seinen Wettbewerb
publik gemacht hatte, näherte sich Reed dem verlorenen Schatz
über eine Kombination aus dem Züchten von Bildern und
der genetischen Manipulation ihrer Gene. Züchten ist eine
Art von schnellem und lockeren Brainstorming; Genmanipulation
ist eine Art Feinabstimmung und Kontrolle. Von den 40 Stunden,
die Reed nach eigenen Schätzungen für die Jagd nach
dem Kelch aufwandte, verbrachte er 38 mit Manipulation. "Es
wäre unmöglich gewesen, ihn auf dem Wege der Züchtung
zu finden", sagte er. Als er sich an den Kelch herangearbeitet
hatte, gelang es Reed nicht, den letzten Pixel zu verändern,
ohne alles andere mitzuverschieben. Er verbrachte viele Stunden
mit dem Versuch, diesen einzelnen Pixel in der vorletzten Form
unter Kontrolle zu bringen.
In einem zeitlichen Zusammentreffen, das Dawkins völlig
verblüffte, reichten innerhalb weniger Wochen nach Reed zwei
weitere Sucher unabhängig voneinander korrekte Genlösungen
seines Heiligen Gral-Rätsels ein. Auch sie waren in der Lage,
seinen Blütenkelch in einem astronomisch weiten Raum von
Möglichkeiten ausfindig zu machen, nicht allein durch Zuchtversuche,
sondern vor allem durch Genmanipulation und, in einem Fall durch
umgekehrte Genmanipulation.
VIELLEICHT LAG ES an der sichtbaren Natur des Lands der Biomorphe,
daß die ersten Menschen, die Dawkins Idee der computerisierten
Zucht übernahmen, Künstler waren. Der erste war ebenfalls
Brite, William Latham; später trieb Karl Sims in Boston die
künstliche Evolution voran.
Die Arbeiten von William Latham, die in den frühen achtziger
Jahren ausgestellt wurden, glichen dem Ersatzteilkatalog eines
unergründlichen außerirdischen Apparates. Auf eine
Tapete malte Latham eine einfache Form, etwa einen Kegel oben
in die Mitte, und überzog dann die restliche Fläche
mit zunehmend komplexeren Kegelgestalten. Die Erschaffung jeder
neuen Gestalt folgte Regeln, die Latham sich ausgedacht hatte.
Dünne Linien verbanden eine Figur mit der modifizierten von
ihr abstammenden Figur. Oft spaltete sich eine Form in eine Vielzahl
von Varianten. Am unteren Ende dieser riesigen Seiten hatte sich
die Metamorphose der Kegelform in verzierte Pyramiden und Art-Deco-Wälle
vollzogen. Die logische Struktur der Zeichnung war der Stammbaum,
aber mit einer Vielzahl von ganz normalen Querverbindungen. Die
gesamte Fläche war gestopft voll. Es sah mehr nach einem
Netzwerk oder einem Schaltkreis aus.
Latham nannte diesen "zwanghaften, regelgeleiteten Prozeß"
zur Erzeugung von Formenvielfalt und der Selektion bestimmter
Nachfahren zur Weiterentwicklung "FormSynth". Ursprünglich
hatte er FormSynth als Werkzeug zur Ideenfindung für mögliche
Skulpturen benutzt. Er suchte eine besonders gefällige Form
aus seiner Mappe mit Entwürfen und setzte diesen kniffligen
Umriß dann in Holz oder Kunststoff um. In einem von Lathams
Ausstellungskatalogen findet sich eine von ihm mittels FormSynth
geschaffene (oder gefundene) einfache schwarze Statue, die einer
afrikanischen Maske ähnelt. Aber die Bildhauerei nahm soviel
Zeit in Anspruch und war in gewisser Hinsicht auch überflüssig,
so daß er sie aufgab. Ihn interessierte am meisten die unermeßliche
und unerforschte Bibliothek möglicher Formen. Latham: "Mein
Augenmerk wanderte von der Arbeit an einer einzelnen Skulptur
zur Arbeit an Millionen von Skulpturen, von denen jede wieder
eine Million Skulpturen ablaichte. Mein Kunstwerk war ab diesem
Zeitpunkt die ganze Evolutionsgeschichte der Skulpturen."
Das lawinenartige Auftauchen dreidimensionaler Computergrafiken,
die er Ende der 80er Jahre in den USA zu sehen bekam, inspirierte
ihn dazu, sich selbst mit Computern als einer Möglichkeit
zu beschäftigen, die eigene Formerzeugung zu automatisieren.
Er arbeitete mit Programmierern einer IBM-Forschungsabteilung
im englischen Hampshire zusammen. Gemeinsam modifizierten sie
ein 3D-Modellierungsprogramm so, daß es Mutanten erzeugen
konnte. Ungefähr ein Jahr lang gab der Künstler Latham
von Hand genetische Werte in sein formerzeugendes Programm ein
oder bearbeitete sie, um wunderschöne vollständige Bäume
möglicher Formen zu erzeugen. Indem er den Code einer Form
von Hand veränderte, konnte Latham den Raum per Zufall durchsuchen.
Mit Understatement erinnert sich Latham an diese manuelle Suche
als "arbeitsintensiv".
Nachdem Latham 1986 auf das gerade herausgekommene Biomorph-Programm
gestoßen war, verschmolz er das Herz von Dawkins Evolutionsmaschine
mit der ausgetüftelten Haut seiner dreidimensionalen Formen.
Die Verbindung gebar die Idee zu einem evolutionären Kunstprogramm.
Latham gab dieser Methode den Namen "Der Mutator". Der
Mutator funktionierte fast genauso wie Dawkins Mutationsmaschine.
Das Programm erzeugte Nachfahren einer bereits vorhandenen Form,
die sich geringfügig voneinander unterschieden. Lathams Figuren
waren jedoch keine Strichformen, sondern aus Fleisch und Blut.
Sie sprangen einem mit ihrer Dreidimensionalität und ihren
Schattierungen sofort ins Auge. Ganze Tiere, die den Blick fesselten,
ließ sich der hochauflösende IBM-Grafik-Computer einfallen.
Der Künstler selektierte dann den Besten aus der 3D-Brut.
Diese beste Form wurde der nächste Elter, um weitere Mutationen
zu erzeugen. Über mehrere Generationen hinweg entwickelte
der Künstler einen vollständig neuen Körper in
einer echten Borges'schen Bibliothek. Das Land der Biomorphe war
trotz seiner ungeheuren Größe nur ein Unterbezirk von
Lathams Raum.
Ähnlich wie Dawkins stellte Latham fest: "Ich hatte
nicht mit dieser Bandbreite von Skulpturen gerechnet, wie sie
meine Software erzeugen konnte. Der Reichtum an verschiedenartigen
Formen, die mit dieser Methode erzeugt werden können, scheint
unbegrenzt zu sein." Unter den Formen, die Latham herausholte
und die mit verblüffenden Details wiedergegeben wurden, fanden
sich kompliziert geflochtene Körbe, marmorierte Rieseneier,
doppelpilzige Dinger, gedrehte Geweihe von einem fremden Planeten,
Flaschenkürbisse, fantastische mikrobiologische Viecher,
punkige Seesterne und ein wirbelnder vielarmiger außerirdischer
Shiva-Gott, den Latham "MutationY1" nannte.
"Ein Garten überirdischer Lüste", bemerkte
Latham über seine Formkollektion. Statt zu versuchen, das
Motiv irdischen Lebens zu imitieren, sucht Latham nach alternativen
organischen Formen, nach "etwas Wilderem" als dem Leben
auf der Erde. Er erinnert sich an den Besuch eines Jahrmarkts,
auf dem es ein Zelt zur künstlichen Befruchtung gab. Dort
sah er Fotografien gigantischer mutierter Superbullen und andere
Typen "unnützer" Monster. Diese bizarren Formen
inspirierten ihn.
Die Ausdrucke sind so surrealistisch klar, als wären sie
im Vakuum des Mondes aufgenommen worden. Jede Form vermittelt
davon ein erstaunlich organisches Gefühl. Diese Dinge sind
keine Kopien der Natur, sondern natürliche Gestalten, die
nicht auf der Erde existieren. Latham: "Der Apparat gab mir
die Freiheit, Formen zu erkunden, zu denen ich zuvor keinen Zugang
hatte, so als hätten sie sich jenseits meiner Vorstellungskraft
befunden."
In den hintersten Schlupfwinkeln der Borges'schen Bibliothek
warten Ständer voll anmutiger Geweihe, Regale mit linkshändigen
Schlangen, Reihen mit Bäumen, die Zwerge tragen, und Stellagen
mit Marienkäfern auf ihren ersten Besucher, gleich ob dieser
die Natur oder ein Künstler sein wird. Bis jetzt sind weder
Natur noch Künstler bis zu ihnen vorgedrungen. Sie bleiben
ungedacht, ungesehen, nicht materialisiert, bloß mögliche
Formen. So weit wir wissen, ist die Evolution der einzige Weg,
auf dem man sie erreichen kann.
Die Bibliothek enthält alle Lebensformen der Vergangenheit
und der Zukunft und vielleicht sogar die Gestalt des Lebens, wie
es auf anderen Planeten gegenwärtig ist. Unsere eigenen natürlichen
Vorurteile hindern uns daran, uns im Detail in diese alternativen
Lebensformen zu versenken. Unsere Gedanken strömen schnell
zu dem zurück, was wir als natürlich kennen. Wir können
einen flüchtigen Gedanken daran verschwenden, aber wir schrecken
davor zurück, eine so grillenhafte Phantasie mit vielen Details
auszustatten. Um uns dorthin zu bringen, wo wir alleine nie hinkämen,
läßt sich die Evolution gleichwohl als Wildpferd einspannen.
Mit diesem ungezähmten Transportmittel gelangen wir an einen
Ort voll seltsamer Körper, die bis ins letzte vollständig
imaginiert sind (wenn auch nicht von uns).
Karl Sims, der CM5-Künstler, erzählte mir: "Ich
bediene mich der Evolution aus zwei Gründen. Zum einen, um
Dinge zu züchten, die mir selbst nie eingefallen wären
und die ich auch auf keinem anderen Wege hätte finden können.
Zum anderen, um Dinge sehr detailliert zu erzeugen, an die ich
vielleicht gedacht habe, für deren Zeichnung mir aber die
Zeit fehlt."
Sowohl Sims als auch Latham stolperten über Diskontinuitäten
der Bibliothek. "Du entwickelst ein Gefühl dafür,
was alles in einem evolutionären Raum geschehen kann",
behauptet Sims. Er berichtete, oft sei es ihm beim Züchten
passiert, daß er - gerade noch lustig vor sich hin pfeifend,
während alles bestens lief - plötzlich auf eine Mauer
stieß und alle Verbesserungen dahin waren. Sogar drastische
Auswahlen hätten die träge Form nicht mehr aus dem Trott
aufscheuchen können, in den sie verfallen zu sein schien.
Generation über Generation neuer Nachkommen schienen keine
Besserung zu bringen. Es kam ihm vor, als sei er in einem großen
lokalen Wüstenbecken gefangen, in dem jeder Schritt genau
dem nächsten glich und die anziehenden Erhebungen weit entfernt
waren.
Als sich Thomas Reed an den im Land der Biomorphe verlorenen
Blütenkelch heranpirschte, mußte er sich oft zurückbewegen.
Er befand sich in der Nähe des Kelches, gelangte aber nirgends
hin. Oft speicherte er Zwischenformen auf seiner langen Jagd.
Einmal mußte er mehrere hundert Stufen zurückweichen,
bis zur sechsten archivierten Form, nur um aus einer Sackgasse
herauszukommen.
Latham berichtet von ähnlichen Erfahrungen beim Erkunden
seines Raumes. Oft fand er sich in einem instabilen Gelände
wieder, wie er es nannte. In einigen Regionen mit möglichen
Formen bewirkten signifikante Veränderungen an den Genen
nur asignifikante Verschiebungen in den Formen - Sims Wüstenbecken
der Stagnation. Er mußte die Gene tatsächlich kilometerweit
herumschubsen, um einen Zentimeter an der Form zu bewegen. Dafür
genügten in anderen Regionen minimale Veränderungen
an den Genen, um zu großen Umbauten der Form zu gelangen.
Bei den einen kamen Lathams Versuche, in den Raum vorzudringen,
langsam wie ein Gletscher voran; bei den anderen ließ ihn
die kleinste Bewegung gischtsprühend und schnell wie mit
einer Zoom-Funktion durch die Bibliothek segeln.
Um zu verhindern, daß er an einem Ziel, einer möglichen
Form vorbeischoß und um ihre Entdeckung zu beschleunigen,
drehte Latham während seiner Erkundung mit Absicht an dem
Mutationsregler herum. Zunächst setzte er die Mutationsrate
hoch, um durch den Raum zu springen. Sobald die Umrisse interessanter
wurden, senkte er die Mutationsrate, so daß die Unterschiede
von Generation zu Generation immer geringer ausfielen und er langsam
auf eine unentdeckte Form zukriechen konnte. Sims tunte sein System
so, daß es einen ähnlichen Trick automatisch ausführte.
Sobald das Bild, das er züchten wollte, an Komplexität
zunahm, schraubte seine Software automatisch die Mutationsrate
herunter, um sanft auf der endgültigen Form zu landen. "Sonst
kann es ganz schön verrückt werden, wenn man versucht,
die Feinabstimmung eines Bildes hinzubekommen."
Die beiden Pioniere entwickelten noch eine Reihe weiterer Tricks,
um durch die Bibliothek zu reisen. Der wichtigste Trick war Sex.
Dawkins Land der Biomorphe war ein fruchtbarer, aber puritanischer
Ort, der nicht die leiseste Ahnung von Sex hatte. Alle Varianten
in "Land der Biomorphe" waren Ergebnisse asexueller
Mutationen einer einzigen Urform. Sims und Lathams Welten hingegen
wurden vom Sex gesteuert. Eine der wichtigsten Lektionen, die
die Pioniere lernten, war, daß man Sex in einem evolutionären
System auf jede nur erdenkliche Art machen konnte.
Natürlich gab es da die orthodoxe Missionarstellung: zwei
Elternteile, mit ihren jeweiligen Genen. Aber selbst diese anrührende
Standardpaarung kann auf verschiedene Weise vollzogen werden.
In der Bibliothek ist Züchten analog zu dem Vorgang, zwei
Bücher zu nehmen und ihren Text zu verschmelzen, um ein Kind-Buch
zu bekommen. Man kann zwei Arten von Nachkommen erhalten: Bücher,
die sich "dazwischen" befinden, oder Außenseiter-Bücher.
Nachfahren, die sich dazwischen befinden, erben eine Position
zwischen Papi und Mami. Man stelle sich eine gerade Linie in der
Bibliothek vor, die eine Brücke von Buch A zu Buch B schlägt.
Jedes Kind (Buch C) würde sich irgendwo in der Bibliothek
auf dieser gedachten Linie befinden. Der Nachwuchs (dazwischen)
könnte sich genau auf der Hälfte des Abstandes befinden,
wo sie wären, wenn sie genau die Hälfte ihrer Gene von
Papa und die andere Hälfte von Mama hätten. Oder sich
können sich in einem anderen Verhältnis dazwischen befinden,
sagen wir 10% Mutter, 90% Vater. Die Dazwischen-Lebenden können
auch abwechselnd Kapitel aus Buch A und Buch B erben, oder abwechselnd
Gengruppen von Mutter und Vater. Diese Methode behält Gene
bei, die über eine Annäherungsfunktion miteinander verbunden
sein können und die es wahrscheinlicher machen, daß
"gutes Material" angesammelt wird.
Eine andere Möglichkeit, sich die Dazwischen-Lebenden vorzustellen,
wäre ein Morphing der Kreatur A in Kreatur B - in der Wortbedeutung
Hollywoods. Alle Kreaturen, die dadurch auf dem Weg von A nach
B auftauchen, sind die möglichen Dazwischen-Nachfahren des
Paares.
Außenseiter-Nachwuchs erbt einen Platz außerhalb
der Morph-Linie zwischen Mami und Papi. Eher ein zufälliges
Zwischenstadium zwischen einem Löwen und einer Schlange,
handelt es sich bei diesen Nachkommen um Schimären, die sich
eines Löwenkopfes, eines Schlangenschwanzes und einer gespaltenen
Zungen rühmen können. Es gibt verschiedene Arten, Schimären
zu erzeugen; darunter auch die Basisvariante, bei der man im Zufallsteich
willkürlicher Merkmale fischt, die entweder zu Mutter oder
Vater gehören. Außenseiter-Nachfahren sind wilder,
weniger wahrscheinlich und stärker außer Kontrolle.
Aber damit ist noch nicht das Ende der machbaren Absonderlichkeiten
in evolutionären Systemen erreicht. Auch Paarung kann pervers
sein. William Latham spielt in seinem System gegenwärtig
mit Polygamie herum. Warum die Paarung auf zwei Eltern beschränken?
Latham hat sein System so kodiert, daß es ihm erlaubt ist,
bis zu fünf Eltern auszuwählen und jedem Elternteil
unterschiedliche Bedeutung und Vererbungsfähigkeit zuzuweisen.
Also spricht er zu seiner Brut von Kinderformen: Das nächste
Mal möchte ich etwas, was diesem hier, diesem hier und jenem
da sehr ähnlich sieht und ein bißchen wie dieser und
ein kleines bißchen wie jener ist. Dann verheiratet er sie
miteinander, und sie bringen gemeinsam die neue Brut hervor. Latham
ist ebenfalls in der Lage, negative Werte zuweisen wie: nicht
wie dieser. Tatsächlich hat er einen Anti-Elter geschaffen.
Wenn ein Anti-Elter sich in mehreren Verbindungen paart, "zeugt"
er Kinder, die ihm so unähnlich sind wie möglich.
Als Latham sich noch weiter von der natürlichen Biologie
entfernte (zumindest von jener, die uns bekannt ist), bastelte
er ein Programm für seinen Mutator zusammen, das den Fortschritten
des Züchters durch die Bibliothek folgt. Von Genen, die einen
bestimmten Züchtungszeitraum überdauern, nimmt der Mutator
an, daß sie dem Züchter gefallen. Er macht diese Gene
dominant. Andere, die immer wieder wechselten, deutet der Mutator
als "experimentelle" und den Züchter nicht zufriedenstellende
Gene. Also reduziert er deren Bedeutung, indem er sie in jeder
Paarung als rezessiv bestimmt.
Die Idee, der Spur der Evolution zu folgen, um ihre zukünftige
Richtung zu antizipieren, ist berückend. Sowohl Sims als
auch Latham träumen von einem künstlichen Intelligenzmodul,
das den Fortschritt eines Züchters durch den Formenraum analysieren
könnte. Das KI-Programm würde das allen Selektionen
gemeinsame Element erkennen und dann tief in die Bibliothek hineingreifen,
um eine Form herauszuholen, die dieses Merkmal in sich trägt.
Im Centre Pompidou in Paris und auf dem Ars Elektronica Festival
in Linz installierte Karl Sims eine öffentlich zugängliche
Version seines künstlichen Evolutionsuniversums. In der Mitte
eines langen Galerieraums summte ein CM-Rechner auf seiner Plattform.
Der tiefschwarze Würfel war mit flimmernden roten Lichtern
bestückt, die aufleuchteten, wenn die Maschine dachte. Ein
schweres Kabel verband den Superrechner mit einem Bogen aus 20
großen Monitoren. Vor jedem der Farbbildschirme im Halbrund
befand sich ein Feld auf dem Boden. Trat man auf ein solches Feld
(unter dem sich ein Schalter befand) konnte ein Museumsbesucher
ein bestimmtes Bild aus der Reihe auswählen.
In Linz hatte ich die Gelegenheit, CM2-Bilder zu züchten.
Zunächst wählte ich ein Bild, das aussah, wie eine Impression
von Mohnblumen in einem Garten. Sofort ließ Sims Programm
zwanzig neue Nachfahren der Blumen entstehen. Zwei Bildschirme
füllten sich mit grauem Abfall, die anderen 18 zeigten neue
"Blumen", einige fragmentiert, einige in neuen Farben.
Jedesmal versuchte ich herauszubekommen, wie ich das Bild blumiger
machen könnte. Durch die Sprünge von Feld zu Feld kam
ich rasch in dem vom Computer aufgeheizten Raum ins Schwitzen.
Die körperliche Arbeit kam mir vor wie Gärtnern - Formen
zum Leben zu erwecken. Ich züchtete weiterhin immer elaboriertere
Blumenmuster, bis ein anderer Besucher die Richtung zu wild floreszierenden
Karomustern änderte. Ich war verblüfft von der Bandbreite
wunderschöner Bilder, die das System aufdeckte: geometrische
Stilleben, halluzinogene Landschaften, fremdartige Maserungen,
unheimliche Symbole. Eine elaborierte, brillant kolorierte Komposition
nach der anderen erschien auf den Monitoren, um danach für
immer zu verschwinden, wenn sie nicht ausgewählt wurden.
Sims Installation züchtet den ganzen Tag, jeden Tag, unterstellt
seine Evolution den Launen der vorüberziehenden Massen internationaler
Museumsbesuchern. Die Connection Machine speichert jede Auswahl
und jede Auswahl, die zu der Auswahl führte. Sims verfügt
jetzt über einen Datenbestand dessen, was Menschen (zumindest
Kunstmuseumsmenschen) schön oder interessant finden. Er glaubt,
daß sich diese unartikulierten Eigenschaften aus einem solch
riesigen Datenfundus abstrahiert lassen und dann als Selektionskriterien
für zukünftige Züchtungen in anderen Regionen der
Bibliothek verwendet werden können.
Oder vielleicht finden wir zu unserer großen Überraschung
heraus, daß die Selektionskriterien nichts miteinander verbindet.
Es könnte sein, daß jede hoch entwickelte Form schön
ist. Schönheit findet sich in allen biologischen Kreaturen,
auch wenn einzelne Menschen bestimmte Vorlieben haben. Auf die
Gesamtheit gesehen ist ein Monarchschmetterling nicht mehr oder
weniger eindrucksvoll als sein Wirt, die Dolde der Seidenpflanzen.
Auch parasitäre Lebewesen sind schön, wenn man sie vorurteilsfrei
betrachtet. Meine Vermutung ist, daß die Schönheit
der Natur dem Prozeß, über Evolution zu ihr zu gelangen,
und der wichtigen Tatsache innewohnt, daß die Form biologisch
als Ganzes funktionieren muß.
Dennoch, etwas unterscheidet die selektierten Formen, egal was
sie sind, von dem gesprenkelten grauen Rauschen, das sie umgibt.
Ein Vergleich der ausgewählten mit den zufälligen mag
uns vielleicht Auskunft über die Schönheit geben und
uns sogar dabei helfen herauszubekommen, was wir unter "Komplexität"
verstehen.
Züchten war einst ein Handwerk, das den Gärtnern vorbehalten
war. Heute können auch Maler, Musiker und Erfinder etwas
damit anfangen. William Latham sieht den Evolutionismus als die
kommende Epoche der modernen Kunst. Im Evolutionismus brüten
die ausgeborgten Begriffe Mutation und sexuelle Reproduktion die
Kunst aus. Statt Strukturen für computerisierte Grafikmodelle
zu malen oder zu entwerfen, züchtet Künstler Sims sie.
Sims bewegt sich in einer Gegend holzartiger Muster und entwickelt
dort solange, bis er genau das körnige, mit Astlöchern
gespickte tannenartige Aussehen gefunden hat, das er verwenden
kann, um eine Wand in einem Video einzufärben, das er gerade
macht.
Mittlerweile läßt sich dergleichen auf einem Macintosh
mit einer handelsüblichen Version von Adobe Photoshop machen.
Das von Kai Krause geschriebene Programm TextureScape ermöglicht
es gewöhnlichen Computerbesitzern, Strukturen zu züchten,
wobei sie aus acht Nachkommen pro Generation wählen können.
Der Evolutionismus kehrt den modernen Trend bei der Entwicklung
von Künstlerwerkzeugen hin zu immer größerer analytischer
Kontrolle um. Die Ergebnisse der Evolution sind subjektiver ("das
Überleben des Ästhetischsten"), weniger kontrolliert
und enger mit einer Kunst verbunden, die im Traum oder in der
Trance entsteht; tiefgründiger.
Der Künstler der Evolution erschafft zweimal. Zunächst
handelt der Künstler als Gott, indem er sich eine Welt oder
ein System zur Erzeugung von Schönheit ausdenkt. Später
ist er dann der Gärtner oder Kurator der von ihm geschaffenen
Welt, der die ausgewählten Werke, die er hegt, interpretiert
und präsentiert. Er schenkt einem Geschöpf eher durch
Zeugung als durch Modellierung das Leben.
Gegenwärtig beschränken die zur Verfügung stehenden
Mittel der erforschenden Evolution den Künstler darauf, von
einer zufälligen oder primitiven Form auszugehen. Der nächste
Schritt des Evolutionismus wird darin bestehen, daß man
ein von einem Menschen entworfenes Muster als Ausgangspunkt nehmen
und arbiträr von diesem aus züchten kann. Der Idealfall
wäre, beispielsweise ein buntes Logo oder Etikett, welches
überarbeitet (oder auch neu konzipiert) werden muß,
auswählen und von diesem aus die Entwicklung starten zu können.
Die Konturen solch einer kommerziellen Software zeichnen sich
ziemlich deutlich ab: Will Wright, der Autor von SimCity und Gründer
von Maxis, dem innovativen Softwareverlag von El-Fish, hatte sogar
die Idee für einen halbwegs fetzigen Titel: DarwinDraw. In
DarwinDraw entwirft man ein neues Firmenlogo. Jede Linie, Kurve,
jeder Punkt oder Farbstrich des Bildes, das man entwirft, wird
in mathematische Funktionen umgesetzt. Sobald man damit fertig
ist, befindet sich ein Logo auf dem Bildschirm und ein Satz von
Funktionen als mutierbare Gene im Rechner. Dann wird das Logo
gezüchtet. Man läßt es fremdartige Formen annehmen,
auf die man selbst nie gekommen wäre oder für deren
detaillierte Ausarbeitung einem die Zeit fehlt. Zunächst
springt man zufällig umher, um Ideen zu gewinnen. Dann beginnt
man an einem ungewöhnlichen und überzeugenden Arrangement
zu feilen. Man fährt die Mutationsrate herunter, setzt Hochzeiten
mehrerer Eltern und Antieltern ein, bis man die endgültige
Version fein abgestimmt hat. Man ist jetzt im Besitz eines bis
in die letzten Details perfekt entwickelten Kunstwerks mit Kreuzschraffierung
und Filigranarbeiten, die kaum zu glauben sind. Da das Bild auf
Algorithmen basiert, hat es eine unendliche Auflösung; man
kann es so groß machen, wie man will, um unerwartete Details
sichtbar zu machen. Druck es aus!
Um die Möglichkeiten des Evolutionismus zu demonstrieren,
scannte Sims das Logo des CM5 ein und verwendete es als Ausgangsgrafik,
um ein "verbessertes" CM5-Logo zu züchten. Statt
des modernen sterilen Aussehens hatte es gekräuselte organische
Linien an den Ecken der Buchstaben. Den Kollegen im Büro
gefiel das gezüchtete Kunstwerk so gut, daß sie beschlossen,
T-Shirts mit dem Logo zu bedrucken. "Es würde mir wirklich
Spaß machen, Krawatten mittels Evolution zu entwickeln",
sagt Sims. Sein anderer Vorschlag: "Wie wäre es damit,
textile Muster, Tapetendesign oder Schriftarten zu züchten?"
IBM hat die Evolutionsexperimente des Künstlers William
Latham unterstützt, weil der Weltkonzern hier ein kommerzielles
Potential erkannt hat. Während Sims Evolutionsmaschine, Latham
zufolge, "eher einer verwilderten und unkontrollierten Grammatik
folgt", ist diejenige von Latham kontrollierter und für
Ingenieure nützlicher. IBM stellt die von Latham evolutionär
entwickelten Tools Fahrzeugdesignern zur Verfügung, die mit
ihnen Karosserieformen mutieren lassen. Eine der Fragen, die sie
zu beantworten versuchen, ist, ob evolutionäre Designtechniken
eher zu Beginn, in der Konzeptionsphase, oder später, in
der Feinabstimmung, oder in beiden Phasen von Nutzen sind. IBM
beabsichtigt, daraus ein nicht nur für die Automobilbranche
profitables Projekt zu machen. Sie stellen sich evolutionäre
"Steuerungs"-Instrumente für alle Arten von Designproblemen
vor, die eine große Anzahl von Parametern erfordern und
vom Anwender verlangen, auf eine vorherige, gespeicherte Lösung
"zurückzugehen". Latham glaubt, daß die Evolution
im Verpackungsdesign Wurzeln schlagen wird, in dem die äußeren
Parameter fest definiert sind (Größe und Form des Behälters),
aber das, was innerhalb diese Raumes geschieht, völlig offen
ist. Hier kann die Evolution viele Detailebenen beisteuern, für
deren Umsetzung ein menschlicher Künstler nie die Zeit, Energie
oder das Geld haben würde. Der andere Vorteil eines evolutionären
Industriedesigns, so hat Latham allmählich festgestellt,
ist dessen Eignung für die Anwendung durch Designergruppen.
Je mehr Leute damit herumspielen, desto besser wird das Ergebnis.
Der urheberrechtliche Status einer künstlich entwickelten
Schöpfung befindet sich im rechtlichen Vakuum. Wer kann Titelschutz
beantragen? Der Künstler, der züchtete, oder der Künstler,
der das Programm entwickelte? In Zukunft werden Juristen vielleicht
eine Dokumentation des evolutionären Weges, dem der Künstler
bis zum Erreichen der ausgereiften Schöpfung folgte, als
Indiz dafür verlangen, daß diese Arbeit ihm gehört
und nicht kopiert wurde oder sich dem Schöpfer der Bibliothek
verdankt. Wie Dawkins gezeigt hatte, ist es in einer wirklich
großen Bibliothek unwahrscheinlich, daß man einem
Muster mehr als einmal begegnet. Wer über einen evolutionären
Zugangsweg zu einem bestimmten Punkt verfügt, liefert damit
den unwiderlegbaren Beweis, daß der Künstler dieses
Ziel originär gefunden hat, da die Evolution nicht zweimal
denselben Weg einschlägt.
Letztendlich wird das Züchten einer nützlichen Sache
beinahe so wunderbar wie deren Schöpfung. Richard Dawkins
betont dies, wenn er behauptet, daß "erfolgreiche Suchvorgänge,
wenn der Suchraum hinreichend groß ist, von echter Kreativität
ununterscheidbar werden". In der Bibliothek aller möglichen
Bücher ein bestimmtes Buch zu finden, ist das Äquivalent
dazu, es zu schreiben.
Diese Meinung wurde bereits vor Jahrhunderten, lange vor der
Erfindung des Computers, vertreten. Denis Diderot schrieb 1755:
Die Zahl der Bücher wird ständig steigen, und man kann
vorhersehen, daß eine Zeit kommen wird, da es beinahe genauso
schwierig sein wird, irgend etwas aus Büchern zu lernen wie
aus dem direkten Studium des gesamten Universums. Es wird beinahe
so bequem sein, nach einem in der Natur verborgenen Stückchen
Wahrheit zu suchen, wie es in der unermeßlichen Vielzahl
gebundener Bände verborgen zu finden.
William Poundstone, der Autor von The Recursive Universe, ersann
folgende Analogie, um zu illustrieren, warum das Suchen in gewaltigen
Borges'schen Bibliotheken des Wissens genauso schwierig ist, wie
das Durchsuchen der gewaltigen Borges'schen Bibliothek der Natur
selbst. Man stelle sich vor, sagte Poundstone, es gäbe eine
Bibliothek mit allen möglichen Videos. Wie alle Borges'schen
Räume sind die meisten Items in dieser Bibliothek angefüllt
mit Rauschen und beliebigen Grautönen. Ein typisches Band
bestünde aus zwei Stunden Grieseln. Das Hauptproblem bei
der Suche nach einem anschaubaren Video ist, daß kein Titel,
Name oder Symbol irgendeiner Art ein beliebiges Band auf geringerem
Raum oder in geringerer Zeit darstellen könnte als das Band
selbst. Die meisten Items in einer Borges'schen Bibliothek können
nicht zu etwas komprimiert werden, das kleiner ist als das Werk
selbst. (Diese Nicht-Reduzierbarkeit ist die übliche Definition
von Beliebigkeit). Um nach Bändern zu suchen, müssen
sie angeschaut werden, und deshalb würde die benötigte
Information, Zeit und Energie, um sich eine Übersicht über
alle Bänder zu verschaffen, die Information, Zeit und Energie
übersteigen, die nötig wäre, um das Band, nach
dem man sucht, selbst herzustellen, ganz gleich, um welches Band
es sich handelt.
Evolution ist ein langsamer Weg, dieses Problem auszutricksen,
aber das, was wir Intelligenz nennen, ist nicht mehr (und nicht
weniger) als ein Tunnel, der durch dieses Problem führt.
Wäre ich bei meiner Suche in der Bibliothek nach meinem Buch
Das Ende der Kontrolle besonders gewitzt vorgegangen, hätte
ich vielleicht nach mehreren Stunden die grundsätzliche Richtung
für meine Wanderung durch die Lager der Bibliothek herausfinden
können. Vielleicht hätte ich bemerkt, daß "Sinn"
generell links von dem letzten Buch, das ich in Händen hielt,
lag. Ich hätte viele Generationen einer langsamen Evolution
antizipieren können, indem ich mehrere Kilometer nach links
gegangen wäre. Vielleicht hätte ich die Architektur
der Bibliothek verstanden und vorhersagen können, wo der
Sinn sich versteckte, und hätte sowohl das zufällige
Raten als auch die dahinschleichende Evolution hinter mir gelassen.
Vielleicht hätte ich Das Ende der Kontrolle mittels einer
Mischung aus Evolution und dem Erlernen der Ordnung finden können,
welche der Bibliothek innewohnt.
Einige Erforscher des menschlichen Denkens vertreten das gewichtige
Argument, daß Denken ein Modell der Evolution von Ideen
im Gehirn ist. Dieser Argumentation zufolge sind alle geschaffenen
Dinge Ergebnisse von Evolution. Jetzt, da ich dies aufschreibe,
muß ich dem zustimmen. Ich begann dieses Buch nicht mit
einem Satz, den ich im Kopf geformt hatte, sondern mit einer arbiträr
gewählten Wendung: "Ich befinde mich". In einer
unbewußt schnellen Abfolge bewertete ich sodann einen Kopf
voll nächster möglicher Wörter. Ich wählte
aus, was mir ästhetisch passend schien: "in einer gläsernen
Behausung". Danach ging ich zum nächsten Wort und traf
meine Auswahl aus etwa 100.000 möglichen Wörtern. Jedes
ausgewählte Wort erzeugte die Auswahl für das nächste,
bis ich beinahe einen Satz aus diesen Wörtern entwickelt
hatte. Gegen Ende des Satzes war meine Auswahl irgendwie durch
die Wörter, für die ich mich bereits zuvor entschieden
hatte, eingeschränkt; dies zu wissen, half, das Züchten
zu beschleunigen.
Aber das erste Wort des nächsten Satzes hätte jedes
Wort sein können. Das Ende meines Buches, 150.000 Selektionen
weit weg, erschien so entfernt und unwahrscheinlich wie das Ende
der Galaxie. Ein Buch ist unwahrscheinlich. Von allen Büchern,
die in der Welt geschrieben wurden oder werden, hat nur dieses
Buch die beiden vorangegangen Sätze als Folge gefunden.
Jetzt, da ich mich in der Mitte des Buches befinde, entwickle
ich noch immer den Text weiter. Welches werden die nächsten
Worte sein, die ich in diesem Kapitel schreibe? In einem sehr
realen Sinn weiß ich es nicht. Es gibt wahrscheinlich Milliarden
von Möglichkeiten, welche es sein könnten, selbst wenn
ich die Einschränkung berücksichtige, daß sie
logisch an den letzten Satz anschließen müssen. Haben
Sie mit diesem Satz als nächstem Satz gerechnet? Ich auch
nicht. Aber das ist der Satz, den ich am Ende des Satzes fand.
Ich schrieb dieses Buch, indem ich es fand. Ich fand es in Borges
Bibliothek, indem ich es an meinem Schreibtisch züchtete.
Wort für Wort reiste ich durch die Bibliothek von Jorge Luis
Borges. In einer unheimlichen Verbindung aus Lernen und Evolution,
die unsere Köpfe vollführen, fand ich dieses Buch. Es
stand im mittleren Regal, beinahe in Augenhöhe, im siebten
Sechseck der Abteilung 52427. Wer weiß, ob es mein Buch
ist oder nur eines, das beinahe mein Buch ist (mit ein paar anderen
Absätzen oder der Auslassung einiger kritischer Fakten)?
Meine große Genugtuung nach der langen Suche war, daß, wie das Buch auch ankommt, nur ich es habe finden können.
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