The Art of Memory

Yates, Frances (Routledge and Keegan Paul Ltd, London, 1966)

Wer diese Fähigkeit (des Gedächtnisses) trainieren will, muß deshalb bestimmte Orte auswählen und von den Dingen, die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder herstellen und sie an die bewussten Orte heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können die Orte anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben nützen. (Simonides von Keos, Erfinder der Prinzipien der Gedächniskunst)

Damit hat Simonides, oder wer es sonst entdeckt hat, eine kluge Beobachtung gemacht: Wir können uns dasjenige am deutlichsten vorstellen, was sich uns durch die Wahrnehmung unserer Sinne mitgeteilt und eingeprägt hat; der schärfste von all unseren Sinnen ist aber der Gesichtssinn. Deshalb kann man etwas am leichtesten behalten, wenn das, was man durch das Gehör oder durch Überlegung aufnimmt, auch noch durch die Vermittlung der Augen ins Bewusstsein dringt. (Cicero)

Inrentio ist das Ersinnen wahrer Dinge (res) oder der Wahrheit ähnlicher Dinge, mit denen man seine Sache einleuchtend machen kann; dispositio ist die Anordnung der so aufgedeckten Dinge; elocutio ist die Zuordaung geeigneter Wörter an das Erfundene (die Dinge); memoria ist die sichere Wahrnehmung von Dingen und Wörtern in der Seele; pronuntiatio ist das Mäßigen von Stimme und Körper, entsprechend der Würde der Dinge und Wörter. (Cicero)

Die Natur selber lehrt uns, wie wir verfahren sollen. Sehen wir im Alltagsleben unbedeutende, gewöhnliche und banale Dinge, dann können wir uns in der Regel nicht an sie erinnern, denn unser Verstand wird nicht durch jedes beliebige Neue oder Wunderbare angeregt. Wenn wir aber etwas besonders Gemeines, Niederträchtiges, Ungewöhnliches, Grosses, Unglaubwürdiges oder Lächerliches sehen oder hören, werden wir dessen wahrscheinlich lange gedenken. Entsprechend vergessen wir gewöhnliche Dinge, die unmittelbar vor unseren Augen und Ohren sind; am besten erinnern wir uns oft an Begebenheiten unserer Kindheit. Dies hat wohl keinen anderen Grund, als dass die gewöhnlichen Dinge leicht unserem Gedächtnis entgleiten, während das Verblüffende und Neue länger in unserem Verstand haften bleibt. Aufgang, Lauf und Untergang der Sonne sind niemandem wunderbar, denn sie ereignen sich täglich. Aber Sonnenfinsternisse erregen Erstaunen, denn sie sind selten, und sind sogar noch wunderbarer als Mondfinsternisse, denn diese ereignen sich häufiger. So zeigt die Natur, dass sie durch das gewöhnliche, normale Ereignis nicht aufgerüttelt wird, sondern durch eine neue oder auffällige Begebenheit erregt wird. So soll die Kunst die Natur nachahmen, finden, was jene verlangt, und dorthin folgen, wohin jene führt. Denn es gibt nichts, was die Natur zuletzt, aber der Unterricht zuerst erfunden hätte; vielmehr gehen die Anfänge der Dinge von der natürlichen Anlage aus, und die Ziele werden durch Disziplin erreicht.

Wir sollten also solche Bilder aufstellen, die möglichst lange im Gedächtnis haften. Dies wird geschehen, wenn wir möglichst auffällige Gleichnisse wählen; wenn wir Bilder herstellen, die nicht nichtssagend und undeutlich, sondern aktiv sind (imagines agentes); wenn wir ihnen außerordentliche Schönheit oder einzigartige Häßlichkeit beilegen; wenn wir manche von ihnen besonders ausschmücken etwa mit Kronen oder Purpurmänteln, so daß das Gleichnis für uns auffälliger ist; oder wenn wir sie irgendwie entstellen, etwa indem wir ein blutbeilecktes oder mit Lehm beschmiertes oder mit roter Farbe bestrichenes Gleichnis einführen, damit die Gestalt mehr hervorgehoben wird, oder indem wir unseren Bildern komische Wirkungen beilegen, weil auch das gewährleisten wird, daß sie unserer Erinnerung besser zur Verfügung stehen. Denn an Dinge, an die wir uns, wenn sie wirklich sind, leicht erinnern, erinnern wir uns auch mühelos, wenn sie Produkte der Phantasie sind. Doch eines wird dabei wesentlich sein, nämlich in Gedanken die ursprünglichen Orte immer wieder durchzugehen, um die Bilder aufzufrischen. (Cicero)

Wir sollen uns den betreffenden Mann krank im Bett liegend vorstellen, wenn wir ihn persönlich kennen. Kennen wir ihn nicht, so nehmen wir irgendeinen Kranken, nicht vom niedrigsten Rang, damit er uns schnell einfallen kann. Den Angeklagten stellen wir an sein Bett, in der Rechten den Becher, in der Linken die Schreibtafel und am vierten Finger Widderhoden haltend. Auf diese Weise haben wir den Vergifteten, die Zeugen und die Erbschaft im Gedächtnis. (Cicero)

Es gilt deshalb (um nicht mit ungebahrlicher Ausführlichkeit bei einem so bekannten und allgemein vertrauten Thema zu verweilen), viele auffallende, deutlich abgegrenzte und durch mäßige Abstände getrennte Orte zu benützen, an Bildern aber solche, die lebendig und markant sind und die Fäbigkeit haben, einen schnell anzusprechen und die Psyche zu durchdringen. (Cicero)

Die Fähigkeit dazu (die Bilder zu verwenden) wird einmal durch Übung, die zur Gewohnheit wird, erreicht, zum andern durch (Bilder) von ähnlichen Wörtern, mit gleichen oder veränderten Endungen oder gewonnen durch Ubertragung vom Einzelnen zum Allgemeinen, und schliesslich durch die Verkörperung eines ganzen Satzes im Bild eines Wortes, entsprechend der Methode eines meisterlichen Malers, der räumliche Perspektiven oder Proportionen durch unterschiedliche Darstellung der Gestalten herausarbeitet. (Cicero)

Das für uns weniger notwendige Verfahren, sich Wörter einzuprägen, zeichnet sich aus durch grössere Verschiedenheit der Bilder (im Gegensatz zur Verwendung des Bildes eines einzigen Wortes für einen ganzen Satz, wovon er gerade zuvor gesprochen hat). Denn es gibt viele Wörter, die wie Gelenke die Glieder einer Rede aneinanderfügen und durch keine bildliche Analogie bezeichnet werden können. Für diese müssen wir Bilder formen, die wir stets gebrauchen können. Aber das eigentliche Feld des Redners ist die Technik, sich Inhaltliches einzuprägen. Hier können wir die Zeichen durch einzelne Masken setzen, die sie darstellen, so dass wir in den Bildern die Gedanken und mit den Orten die Anordaung fassen können. (Cicero)

Es trifft auch nicht zu, was von Ungeübten behauptet wird, dass diese Bilder eine Last für das Gedächtnis seien und selbst das beeinträchtigten, was es kraft seiner eigenen Natur behalten könnte. Ich habe nämlich Männer von überragendem Format und von beinahe übermenschlicher Gedächtniskraft, Charmadas in Athen und Metrodor von Skepsis in Kleinasien, der heute noch am Leben sein soll; sie sagten beide, dass sie etwas, was sie sich merken wollten, mit Bildern an bestimmten Orten gerade wie mit Buchstaben auf Wachs notierten. Daraus folgt, dass sich die Gedächtniskraft durch diese Übung zwar nicht zutage fördern lässt, wenn sie überhaupt nicht von Natur beseßen ist, doch kann man sie gewiß entwickeln, wenn sie im Verborgenen vorhanden ist. (Cicero)

Prudentia ist das Wissen dessen. was gut und was schlecht und was weder gut noch schlecht ist. Ihre Teile sind Gedächtnis, Einsicht, Voraussicht (memoria, intelligentia, providentia). Gedächtnis ist die Fähigkeit, mit der der Geist das Geschehene zurückruft. Einsicht ist die Fähigkeit festzustellen, was ist. Voraussicht ist die Fähigkeit zu sehen, daß sich etwas ereignen wird, bevor es sich ereignet. (Cicero)

Aus dieser Tat des Simonides scheint man die Beobachtung gewonnen zu haben, dass das Gedächtnis dadurch gestützt wird, dass man feste Orte bezeichnet, an denen die Vorstellungen haften, und das wird jeder nach seiner eigenen Erfahrung glauben. Denn wenn wir nach einer gewissen Zeit an irgendwelche Örtlichkeiten zurückkehren, erkennen wir nicht nur diese selbst wieder, sondern erinnern uns auch daran, was wir dort getan haben, auch fallen uns Personen wieder ein, ja zuweilen kehren gar die Gedanken in unseren Geist zurück, die wir uns dort gemacht haben. Die Kunst entstammt also auch hier wie in den meisten Fällen der Erfahrung. So werden denn Orte ausgewählt, die möglichst geräumig und recht abwechslungsreich und einprägsam ausgestattet sind, wie ein grosses Haus, das in viele Räume eingeteilt ist. Alles, was hierin bemerkenswert ist, wird sorgfältig und fest in das Bewusstsein aufgenommen, so dass das Denken ohne Zaudern und Stocken alle Teile durehlaufen kann. Die erste Aufgabe ist sicherzustellen, dass es bei diesem Durchlaufen keine Schwierigkeiten gibt; denn mehr als fest muss das Gedächtnis das bewahren, was wieder für anderes Gedächtnisstütze sein soll. Dann fasst man das, was geschrieben oder in Gedanken ausgearbeitet wurde, in einen Begriff zusammen und kennzeichnet diesen mit einem Merkmal, das zur Anregung des Gedächtnisses dienen soll, sei es ein Bild aus der ganzen "Sache", z. B. der Seefahrt oder dem Kriegswesen, oder von irgendeinem "Wort"; denn entfällt uns ein Gedanke, so lässt er sich schon durch den Anstoss, den ein einziges Wort bietet, wieder ins Gedächtnis bringen. Ein Merkmal für die Seefahrt mag etwa ein Anker sein, eines für das Kriegswesen ein Bestandteil der Bewaffnung. Diese Merkmale werden folgendermassen verteilt: Der erste Gedanke wird etwa dem Vorraum zugewiesen, der zweite, wollen wir annehmen, dem Atrium, dann geht die Runde um die Innenhöfe, und man schliesst bei der Verteilung nicht nur die Schlafkammern und Sitzecken ein, sondern auch Statuen und €hnliches ganz der Reihe nach. Ist das geschehen, so beginnt man, wenn man sich wieder erinnern soll, von Anfang an diese Orte wieder zu durchmustern, und sammelt wieder auf, was man jedem Ort anvertraut hat, woran man durch das Bild erinnert wird. So werden die einzelnen Gegenstände, mögen es auch noch so viele sein, an die man sich erinnern muss, alle miteinander verbunden sein; auch kann das Folgende nicht vom Vorhergehenden, dem es angeheftet ist, abweichen, wenn man sich nur die Mühe gemacht hat, seinen Text auswendig zu lernen. Was ich von dem Haus gesagt habe, lässt sich auch mit öffentlichen Bauten, einem langen Weg, dem Lageplan von ganzen Städten und mit Bildern machen. Oder man kann sich solche Orte selbst ausdenken. Erforderlich sind also wirkliche oder imaginäre Orte sowie Bilder oder Abbilder, die man selbst erfinden muss. Bilder nenne ich hier das, womit wir kennzeichnen, was auswendig zu lernen ist, um, wie Cicero es ausdrückt, "Orte als Wachstafeln, Bilder als Buchstaben" zu verwenden. Die folgende Stelle wörtlich zu zitieren, wird das Beste sein: "Die Orte sollen zahlreich, gut beleuchtet, deutlich ausgeprägt sein und in mäßigem Abstand einander folgen, die Bilder aber lebhaft, einprägsam und auffallend, so daß sie uns entgegenkommen und schnell in uns Eingang finden können." Um so mehr wundert es mich, wie Metrodorus in den zwölf Zeichen, durch die die Sonne wandert, dreihundertundsechzig Orte gefunden haben will. Gewiss war das nur leere Großtuerei mit seinem Gedächtnis, wobei er sich mehr der Kunst als der Naturanlage rühmte. (Quintilian)

Nun möchte ich zwar nicht leugnen, daß dieses Verfahren nützlich ist, wenn man etwa viele Namen von Dingen, die man gehört hat, der Reihe nach wiedergeben will. Diejenigen, die solche Hilfen benutzen, setzen die Dinge, die sie auswendig gelernt haben, an ihre Gedächtnisorte: einen Tisch etwa, um dieses Beispiel zu gebrauchen, setzen sie in die Vorhalle, ein Pult in die Halle und so weiter, und wenn sie sie dann wieder durchmustern, finden sie sie da, wo sie sie hingestellt haben. Und vielleicht haben diejenigen dann eine Hilfe gefunden, die nach einer Versteigerung anzugeben wußten, was sie jedem Kunden verkauft haben, entsprechend dem, was auch die Listen der Kassierer bezeugten; eine Gedächtnisleistung, die, wie man sagt, auch Q. Hortensius zuwege gebracht hat. Weniger wird das Verfahren dann nützen, wenn man auswendig lernen muss, was in zusammenhängender Rede verfasst ist. Denn schon die Gedanken liefern nicht die gleichen Bildvorstellungen wie Dinge, da solche für sie künstlich gebildet werden müssen; und mag dennoch auch für sie ein Ort irgendwie eine Erinnerung bieten - etwa an eine Rede, die da stattgefunden hat: wie soll mit der gleichen Technik auch der zusammenhängende Wortlaut erfasst werden? Ich sehe davon ab, dass manche Wörter gar nicht mit Bildern bezeichnet werden können, wie doch jedenfalls die Bindewörter; denn immerhin könnten wir ja wie die Stenographen feste Bilder für alle Wörter haben und eine freilich schier endlose Zahl von Orten, wodurch alle Worte, die sich in den fünf Büchern der zweiten Verhandlung gegen Verres finden, ins Gedächtnis zurückgerufen würden, ja wir könnten uns auch an alle erinnern, die wir gleichsam so in Verwahrung gegeben haben: aber muß dann nicht bei der doppelten Belastung des Gedächtnisses der Ablauf der Rede behindert werden? Denn wie kann die Rede in Zusammenhang dahinfliessen, wenn man wegen jedes einzelnen Wortes auf die einzelnen Sinnbilder blicken muss? Deshalb sollen Charmadas und der gerade erwähnte Metrodorus aus Skepsis, von denen Cicero sagt, sie hätten diese Methode angewandt, ihre Kunst für sich behalten: meine Lehre soll schlichtere Wege gehen...

...nämlich beim Auswendiglernen die gleichen Wachstafeln zu verwenden, auf denen er seinen Text aufgeschrieben hat. Denn hier findet er die Spuren noch vor, denen die Erinnerung folgen kann, und er sieht dann nicht nur die Seiten gleichsam vor Augen, auf die die Wörter geschrieben waren, sondern die einzelnen Zeilen, und während er spricht, ist es, als läse er . . . Dieses Verfahren ist zwar der mnemonischen Technik, von der ich gesprochen habe, nicht unähnlich, jedoch, wenn die Erfahrungen, die ich damit gemacht habe, einigen Wert haben, rascher und wirksamer anzuwenden. (Quintilian)

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