Zur Karriere des Dauerhaften.
Hausbiografien wertgeschätzter Wohnungsbauten
aus den Jahren 1900 bis zur Gegenwart
Hausbiografien schreiben-
Eine narrative Methode zur Erforschung von Räumen
Dauerhaft bestehende Häuser werden über die Zeit verschieden bewohnt. In den Bauten wird gelebt, interagiert und kommuniziert. Der Gebrauch, die Nutzungsansprüche und -wünsche sowie die den Räumen zugeschriebenen Funktionen wandeln sich. Das Wandelbare, die Dynamik ist der Garant des Dauerhaften und nicht die Fixation auf einen einmaligen Gebrauch.
Für den jeweiligen Gebrauch werden Räume angeeignet, adaptiert und umgeformt oder um neue Räume erweitert. Zwischen den Baukörpern und ihren Nutzerinnen und Nutzern ereignen sich Austauschprozesse unterschiedlicher Art. Die Bewohnerschaft geht Bindungen zum Wohnraum ein, sie identifiziert sich womöglich mit ihm, eignet sich den Raum an und löst sich einmal auch wieder davon. Gleichzeitig bestehen die Konstanten im Raum: Bauelemente, Raumstrukturen oder Nutzungen und Funktionen, die über die Zeit gleich bleiben. Über die Jahre hinterlässt das Leben der Menschen, der Dinge und Materialien seine Spuren im Haus. Diese Spuren des Gebrauchs gilt es mit den Hausbiographien aufzustöbern, zu sichern und zu lesen, denn sie können wichtige Hinweise geben auf die Voraussetzungen und Bedingungen für die Dauerhaftigkeit eines Hauses. Walter Benjamin spricht in seinem «Kunstwerk»-Aufsatz über die doppelte Rezeption von Bauwerken, die er für bedeutsam hält.
«Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. (...) Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption. Auch sie findet von Hause aus viel weniger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken statt».
Wie findet man diese taktilen und optischen respektive individuellen Spuren des Gebrauchs? Zu suchen sind sie in Plänen, Bauakten, Korrespondenzen in den Archiven, in Presseberichten und in Gesprächen und Interviews sowie an den Bauten selbst. Ihre öffentliche Wahrnehmung spiegelt sich, auch eine Spur des Gebrauchs, in öffentlichen Auszeichnungen und Preisen, Fachbesprechungen, Zeitungsberichten und Publikationen wieder. Sie geben Aufschluss über die gesellschaftliche und kulturelle Wertschätzung, die Bauten erfahren. Ziel ist es, aufgrund der gesammelten Spuren für die einzelnen Häuser ein Porträt erstellen zu können, das die wichtigsten Charakteristika seiner Dauerhaftigkeit beschreibt: jene Faktoren des gebauten wie des gelebten Raumes, welche die Dauerhaftigkeit herstellen. Jedes hausbiographische Porträt gibt im Idealfall eine dichte Beschreibung der Faktoren und Prozesse jenes Gewebes der Herstellung von Dauerhaftigkeit eines exemplarischen Hauses. Jedes Haus ist dabei besonders und unterscheidet sich in seiner Eigenart von den anderen.
Eine Hausbiografie gibt ein detailliertes Porträt einer Siedlung und zeichnet ihre Wahrnehmung und Beurteilung durch die Beteiligten vor dem Hintergrund des sich wandelnden räumlichen und kulturellen Kontexts auf. Sie vertieft die Analyse des Gebauten um die Innenperspektive. Ausschlaggebend für die Auswahl der Objekte sind unterschiedliche Lage und Eigentümerverhältnisse, sowie die Verfügbarkeit möglichst vielfältigen Daten- und Archivmaterials. Um der Vielschichtigkeit der Untersuchungsobjekte in den Hausbiografien gerecht zu werden, wird ein Mix aus historischen, ethnografischen und bauökonomischen Analysemethoden entwickelt, damit ein Haus als komplexe Anordnung in Zeit und Raum sichtbar werden kann. Dazu zählen:
Die Ortsbegehungen anhand eines Beobachtungs- und Erfahrungsrasters, die Analyse des historischen Quellenmaterials wie Bauakten, Kostenabrechnungen, Plänen, Mieterkorrespondenzen, Adressbücher; vertiefte Video-Interviews und Wohnungsrundgänge mit den Bewohnenden sowie Interviews mit den Eigentümern. Bauökonomische Analysen der Lebenszyklen der Bauteile ergänzen die Analysemethode um Aussagen zur Wertbeständigkeit des Gebäudes.
- Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft im Laufe der Zeit: die soziodemographischen und soziostrukturellen Merkmale.
- Die Nutzungen: die Nutzung der Wohnung resp. Siedlung durch die Bewohnergruppen im Laufe der Zeit; die Nutzungsweisen und -veränderungen von Wohnräumen für unterschiedliche Aktivitäten durch Mieter im Laufe der je spezifischen Wohngeschichten; die Nutzung von halböffentlichen Räumen, Gemeinschafts- und Aussenräumen.
- Die räumlichen und sozialen Qualitäten der Wohnung resp. der Siedlung aus Sicht der Bewohnerschaft im Laufe der Zeit.
- Die Qualitäten der Siedlung aus Sicht der Eigentümer im Laufe der Zeit.
- Die Qualitäten der Siedlung aus Sicht der Öffentlichkeit (z.B. Presseberichte, öffentliche Akteure, Nachbarn) im Laufe der Zeit.
«Es gibt die Geschichten von bemerkens-
werten Familiensitzen, Bahnhöfen, Bankgebäuden, Schlössern. Doch häufig sind
es Baugeschichten, kunstge-schichtliche Analysen und nur
selten Geschichten, in denen die komplexe
Geschichte des Orts den roten Faden abgibt.»
(Karl Schlögel)